In dem Wohnhaus leben unübersichtlich viele Menschen. Aber nicht die Anzahl betreffend, denn die ist übersichtlich. Dennoch ist es Herrn Pasilienherb unmöglich, all seine Nachbarn zu kennen. Mehr als zehn sind es womöglich gar nicht. Aber es sind immer andere. Nicht etwa, weil ständig neue ein- und alte auszögen. Nein, es sind einfach immer andere, die aber stets eine nachbarschaftliche Gemeinschaft bilden, deren Herr Pasilienherb nicht Teil ist.

Wenn Herr Pasilienherb das Haus betritt, muss er genau wissen, welche Treppe er im Treppenhaus nehmen muss, um schließlich in seine Wohnung zu gelangen. Das Treppenhaus ist rund, also zylinderförmig. Nicht wie der Hut, sondern wie die geometrische Form. Die Treppe ist somit eine Wendeltreppe, die sich an der Innenwand des Zylinders nach oben schlängelt. Aber es ist eben nicht nur diese eine Treppe. Zwar beginnt sie parterre als eine Treppe, doch fächert sie sich im Verlauf auf: Manche Treppenwege enden sogar abrupt und führen ins Nichts. Andere wechseln die Richtung – sie weiterzugehen bedeutet, das man mit dem Kopf nach unten hängend ihre Stufen nimmt. Und das findet Herr Pasilienherb keineswegs ungewöhnlich. Es ist vollkommen normal – aber durchaus auch unwirtlich: Das Haus mit seinem Treppenhaus überhaupt ist im Wortsinne unwirtlich. Die Angst, die von ihm ausgeht, spürt nur Herr Pasilienherb – die Nachbarn tun das nicht. Sie sind vielmehr Teil der Angst. Und da Herr Pasilienherb gerade neu eingezogen ist, empfindet er das Haus und seine Bewohner als eins.

Herr Pasilienherb ist niemals alleine im Treppenhaus. Dass er einmal niemanden trifft, geschieht nie. Auch dann nicht, wenn er zu Unzeiten nach unten geht, um seinen Briefkasten zu leeren. Der Briefkasten ist in die Wand eingelassen und sehr groß. Er findet dort auch immer Post, die ihn schon vor Jahren erreicht hat. Auch das ist empfindet er nicht als bemerkenswert.

Herr Pasilienherb bewohnt in diesem Haus, das vollkommen gewöhnlich ist, eine sehr große Wohnung. Einige ihrer Räume sind große Hallen, in denen Baugerüste stehen. In diesen Hallen halten sich manchmal Menschen auf, die Herr Pasilienherb nicht kennt. Er wundert sich nicht weiter darüber. Es ist seltsamerweise normal. Und dann gibt es noch den langen Flur, an dessen Ende eine Glastür ist. Sie führt in einen weiteren Hausflur, der aber nicht mehr Teil seiner Wohnung ist. Jener Flur führt zu weiteren Wohnungen. Doch Herr Pasilienherb besitzt keinen Schlüssel für diese Glastür. Vielleicht auch, weil sie sich in einem Teil seiner Wohnung befindet, den er selten betritt. Es kann sein, dass er diesen Teil seiner Wohnung gar nicht angemietet hat. Das weiß er aber nicht.

Manchmal findet Herr Pasilienherb gänzlich neue Räume in seiner Wohnung, die er vorher noch nie gesehen hat. So fand er einmal ein zweites Badezimmer, das sehr verschmutzt war und das er deshalb reinigte. Die Wand, an der eine Badewanne steht, ist nicht bis zur Decke hochgezogen, sodass man in die dahinter liegende Wohnung blicken kann. Das sich dort Menschen aufhalten, ist nicht ungewöhnlich. Diese Menschen können über die nicht vollständig hochgezogene Wand blicken. So, wie er das auch kann. Aber sie reden nicht mit ihm und er redet nicht mit ihnen. Das ist Normalität, nicht weiter ungewöhnlich.

Manchmal ist das Treppenhaus eine große Halle und es sind nicht Treppen, die die Wohnungen miteinander verbinden. An den sich gegenüberliegenden Wänden befinden sich große Räder, Räder so groß wie das Haus. Das ist meist dann der Fall, wenn Herr Pasilienherb sehr viele Nachbarn hat. Von jeder Etage aus kann man dem Rad zusteigen. Dazu betritt man dessen Radschaufeln, wie man sie von alten Mühlen- oder Wasserrädern kennt. Da das Rad sich dreht, kann man jederzeit auf der gewünschten Etage wieder aussteigen. Dass das zwar praktikabel klingt, aber eigentlich gar nicht funktionieren kann, trifft hier nicht zu. Es funktioniert.

Manchmal fährt Herr Pasilienherb mit dem Fahrstuhl. Das tut er aber nicht gerne, da sich der Boden des Fahrstuhls bewegt. Die sich diagonal gegenüberliegenden Ecken bilden eine Wippe – und verhalten sich auch so. Es kommt vor, dass Herr Pasilienherb in der Ecke des Fahrstuhls steht, die sich nach unten Richtung Abgrund bewegt. Auf die Weise ist ihm noch nie etwas zugestoßen, aber dennoch macht es ihm sehr große Angst, da er in den Schacht hinabstürzen könnte. Trotz dieser großen Gefahr verhalten sich die Fahrstühle nicht ungewöhnlich.

Nicht jeder von ihnen führt in jedes Stockwerk. Man muss genau wissen, welchen Aufzug man nehmen muss, um das gewünschte Stockwerk zu erreichen. Einmal wollte Herr Pasilienherb nach ganz oben, weil dort seine Wohnung war. Dazu musste er zunächst einen ganz bestimmten Aufzug nehmen, der in eine verstaubte Kaufhaus-Etage führte. Von da aus musste er durch das Kaufhaus zu einer äußerst engen Wendeltreppe, die teilweise stufenlos war. Diese Lücken musste er durch Klettern überwinden. Dies machte seine Wohnung eigentlich unbewohnbar. Doch tatsächlich empfand Herr Pasilienherb es nicht als ungewöhnlich: Es war normal. Beschwerlich und angsterfüllend, aber normal.

Das ist die Welt, die Herrn Pasilienherb umgibt. Herr Pasilienherb tritt ihr immer mit Angst entgegen, doch es ist die normale Welt.

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