Suchend, denkt der grauhaarige Mann, als er den Nachdenker das erste Mal sieht.

„Suchend!“, ruft er ihm daher zu und beginnt damit die erste Begegnung der beiden.

„Pardon?“, fragt der dann ahnungslos.

„Sie sehen suchend aus, mein Herr. Und die Tasche, die sie da haben, sie scheint leer zu sein. Man sieht nicht mehr oft Menschen mit Taschen.“

„Weil sie nichts mehr haben, um sie zu befüllen. Man trägt nur schwer an ihrer Leere.“

„Suchen Sie etwas, um die Leere zu füllen?“, fragt der Grauhaarige.

Der Nachdenker antwortet schnell: „Ja!“ Als würde er nur darauf gewartet haben, dass jemand fragt.

„Was suchen Sie?“

„Ich suche Texte.“

Der traut sich was, denkt der Grauhaarige. Spricht es einfach so laut aus. Nur solche, die Texte finden, sind schlimmer dran als die, die nur suchen. Aber auch denen ergeht es meist nicht gut.

„Mutig“, sagt der Grauhaarige.

„Was finden Sie mutig?“, fragt der Nachdenker.

„Dass Sie es offen aussprechen.“

„Nun, was hätte ich zu verlieren?“

„Ihr Sein.“

„Was ist das Sein schon ohne Texte? Texte schreiben Leben. Geschichten schreiben Leben!“

Pause.

Der Nachdenker: „Und, was tun Sie nun mit mir? Mich verraten an die Blauen?“

„Nein, denn ich habe Texte.“

„Wo? Wo haben Sie Texte? Wie ist das möglich?“, der Nachdenker ganz erregt.

„Still“, mahnt der Grauhaarige und beide sehen sich nun nervös um. Tiefe Nacht und Ausgangssperre herrschen, in der Ferne hört man das Marschieren der Blauen Schläger im immer gleichen Rhythmus.

„Wenn sie marschieren, ist alles gut“, sagt der Nachdenker, „Aber wenn ihr Takt sich ändert …“

Klock-klock-klock …

„Dann haben sie wieder einen erwischt“, sagt der Grauhaarige, „Folgen Sie mir. Wir müssen vorsichtig sein.“

„Aber nachts schlafen die Ratten doch …“

„Nicht diese … nicht die blauen.“

Der Grauhaarige und der Nachdenker gehen eine Weile schweigend durch die Hauptstraßen. Dort marschieren sie nicht, denn sie halten es nicht für möglich, dass sie jemand auf den breiten Alleen herausfordert. Sie sind tumbe Tore. Und tumbe Tore sind gefährlich.

Der Grauhaarige hält inne, als sie das Haus mit der Nummer 45 erreichen: „Wir sind da.“

Beide blicken sich wieder nervös um, vergewissern sich, unbeobachtet zu sein. Der Grauhaarige klopft leise an der Pforte des Hauses und flüstert: „Esst mehr Nazis.“

Die Tür öffnet sich, eine Frau empfängt den Nachdenker und den Grauhaarigen: „Es sind genug für alle da.“ Sie und der Grauhaarige schmunzeln. Und führen den Nachdenker eine Treppe hinab.

„Willkommen im textualen Kontext!“, sagt der Grauhaarige, nun sichtlich gelöst, „Entspannen Sie sich. Wir sind hier sicher.“

„Könnte man irgendwo unsicherer sein als an einem Ort wie diesem?!“, staunt der Nachdenker, als er merkt, dass er von hunderten, ja, von tausenden Büchern umgeben ist.

Der Grauhaarige und die Frau lachen und der Nachdenker beginnt, sich sicher zu fühlen. Er will in das Lachen mit einstimmen, doch er ist noch überwältigt von der Wucht der Texte, die hinter den Buchdeckeln lauern: „Dieser Raum! Er ist so … er ist so voller Leben!“

„Das, was Sie spüren, das ist die Freiheit, die es draußen nicht mehr gibt, seit die Blauen marschieren.“

Klock-klock-klock.

„Sie marschieren am Haus vorbei“, sagt die Frau.

Gebannt lauschen die Frau, der Grauhaarige und der Nachdenker dem Takt des Marschierens.

Klock-klock-klock.

Klock–klock …

„Der Takt! Er ändert sich …“, flüstert die Frau.

„Schnell, das Messer!“, ruft der Grauhaarige.

Die Frau läuft den Gang entlang, in einer Hinterzimmer, kommt zurück mit einem Messer.

Klock.

Sie richtet das Messer auf den Grauhaarigen. Er nickt ihr zu. Sie stößt das Messer in das Herz des Grauhaarigen, der zu Boden sackt. Richtet das Messer auf sich selbst und stößt zu. Sackt zu Boden.

Der Nachdenker öffnet seine Tasche, greift nach dem blutverschmierten Messer und steckt es in seine Tasche zu den anderen blutverschmierten Messern.

Er geht die Treppe hinauf, dann zur Tür und öffnet sie:

„Wieder zwei. Der ganze Keller voller Bücher. Brennt alles nieder“, sagt der zu den Blauen, „Es soll brennen.“

Dieser Text ist Teil der Vollständigen Edition. Weitere Texte von Seppo auf www.seppo.blog.