Verehrte Leser der Vollständigen Edition,
ich richte mich heute höchstselbst an Sie, da Sie nun Zeuge der Veröffentlichung der Bernd-Akten werden. Nach monatelanger Recherchearbeit war es der Redaktion der Vollständigen Edition gegen Ende des vergangenen Jahres gelungen, eine ungeheuerliche Verschwörung aufzudecken. Nach sorgfältiger juristischer wie auch publizistischer Prüfung veröffentlicht die Vollständige Edition ab heute die Bernd-Akten, die unser Land in seinen ohnehin inzwischen sehr wackeligen Grundfesten weiter erschüttern wird. Ja, wir haben abwägen müssen: Gefährden wir den Fortbestand der Bundesrepublik Deutschland – oder verschweigen wir die markerschütternden Erkenntnisse? Als journalistisches und überparteiliches Angebot, das die Vollständige Edition ist, sehen wir uns jedoch außer Stande, die schockierenden Erkenntnisse für uns zu behalten. Über unsere Quellen werden wir nach sorgfältiger Prüfung schweigen, so, wie es professioneller Journalismus tut. Wir schützen auf diese Weise die mutigen Informanten, die trotz aller Vorsicht ab dem Caitpunkt der Veröffentlichung der Bernd-Akten um ihr Wohl, wenn nicht sogar Leben fürchten müssen.
12. Dezember 2022. Unser Informant, der hier Cedric Malestoban heißen soll und den ich zu diesem Zeitpunkt nicht als solchen erkenne, kontaktiert mich auf höchst konspirative Weise. Als ich mich im Wohnflügel meines Hauses aufhalte, werde ich von einem lauten Scheppern aus meiner Meditation gerissen. Schnell eile ich zum vermuteten Ursprungsort des ohrenbetäubenden Geräusches und finde im Ankleidezimmer einen Ziegelstein vor, der offenbar durch das große Panoramafenster geworfen wurde. Versehen ist er mit einer Nachricht:
Heute Abend, 22.00 Uhr: Zentralfriedhof, Grab von Heinrich Aloysius Maria Elisabeth Brüning. Kommen Sie allein.
Heinrich Aloysius Maria Elisabeth Brüning, denke ich, letzter Reichskanzler vor der Machtergreifung der NSDAP, geborener Münsteraner, der in der Tat auf dem hiesigen Friedhof liegt. Offenbar ist mein journalistisches Talent gefragt und womöglich auch die enorme Reichweite meines Blogs [Anm. d. Red.: Zu jenem Zeitpunkt war der Blog bereits praktisch eingestellt.].
Umgehend warf ich mir meinen Trenchcoat über und machte mich auf den Weg zum Grab des früheren Reichskanzlers. Ich kann heute nicht mehr sagen, warum, doch ich ahnte, dass mir jemand eine ungeheuerliche Geschichte anvertrauen würde. Und so geschah es auch.
Wechsel ins historische Präsenz
Ich kämpfe mich durch den eiskalten Starkregen dieser dunklen Nacht. Die Stadt ist menschenleer. Es sind nur Menschen mit Geheimnissen, die um diese Zeit und bei diesen Widrigkeiten noch unterwegs sind, denke ich. Und ich bin einer von ihnen: Ein Geheimnisträger, der sein Geheimnis noch gar nicht kennt.
Das Grab des Reichskanzlers ist nicht zu übersehen. Nur langsam nähere ich mich ihm – und der Gestalt, die ich dort im Regen erkennen kann. Durch meine Zeit beim BND weiß ich mich lautlos und unbemerkt wie eine Schnecke zu bewegen.
„Da bist du ja!“, ruft die Gestalt.
Teufelskerl, denke ich. Er hat mich gesehen. Mir ist sofort klar, dass ich es hier nicht mit einem Amateur zu tun habe.
„Flotho“, sagt er, „Ich wusste, du würdest kommen. Oder sollte ich dich ‚Graf‘ nennen?“
Teufelskerl! Er kennt meinen Decknamen, den ich beim BND trug. Dort war ich nur „Der Graf“. Ich beschließe, mit offenen Karten zu spielen.
„Korrekt. Und Sie sind?“
„Cedric Malestoban. Wir sind uns schon einmal begegnet. Damals, im Jemen.“
Es macht sofort klick bei mir. Und als Malestoban aus dem Schatten des Mondes tritt, erkenne ich ihn.
„Malestoban, altes Haus!“, rufe ich und trotz meiner Professionalität gelingt es mir nicht, meine Tränen zu unterdrücken, „Ich hatte geglaubt, Du seist im Jemen ums Leben gekommen! Ich war auf deiner Beerdigung, mein Freund! Alles nur Tarnung?!“
„Ja, Graf. Ich musste untertauchen. Denn es gab damals etwas viel Größeres als unser Projekt, dem ich auf der Spur war.“
Unser Projekt. Meine letzte Arbeit für den BND. Es ging damals um die Befreiung von deutschen Geiseln aus den Händen der Kradelta-Organisation. Sie scheiterte krachend. Nicht nur die Geiselnehmer waren am Ende tot – auch alle Geiseln kamen ums Leben, weil ich sie für die Geiselnehmer gehalten hatte. Erst als sie tot waren, kamen die richtigen Geiselnehmer aus dem Schrank. Malestoban erschoss sie sofort und rettete so zumindest teilweise die Mission.
„Graf, die Spur führte mich an einen Ort, mit dem ich nie gerechnet hatte.“
„Zu einem Fährtenleser?“
„Nein, Graf, die Spur führte mich genau an diesen Ort. … Sag mal, bist du inzwischen Lehrer?“
„Nein, warum?“
„Wegen dieser Lehrertasche, die du da trägst.“
„Das ist eine Aktentasche! Ich habe mir was zu essen mitgenommen. Ich weiß ja nicht, was kommt.“
Malestoban öffnet die Tür zum Mausoleum: „Ich zeig dir was“, sagt er.
Er geht an eines der runden Fenster des Mausoleums und macht sich an einem vorspringenden Felsen zu schaffen.
„Was tust du da? Es ist doch nur ein vorspringender Fels“, sage ich.
„Graf, Felsen! Felsen hier in Münster auf dem Zentralfriedhof?“
Malestoban hat Recht. Und zieht an dem Felsen, woraufhin sich eine Bodenplatte, eine Felsplatte auftut. Darunter: eine Fels-Treppe, die in den Fels-Untergrund führt. Malestoban bedeutet mir, ihm zu folgen, und so steige ich mit ihm hinab.
„Kennst du die Weihnachtsfolge von Benjamin Blümchen, als sie mit einer Himmelsrolltreppe den Weihnachtsmann besuchen? So fühle ich mich gerade, nur dass es keine Rolltreppe ist und sie nach unten führt“, sage ich.
„Natürlich kenne ich die Folge. Sie gehört zu den besten. Aber, Graf, wir gehen nicht in den Himmel, sondern eher in die …“
Er muss nicht ausreden. Ich sehe ihm an, was er meint. Inzwischen tut sich unter uns ein schwacher Lichtschein auf. Wir erreichen einen Gang, der schließlich in einen Raum führt, aus dem ein immer lauter werdendes Gezeter tönt. Es scheinen menschliche Rufe zu sein.
„Was rufen sie da?“, frage ich Malestoban, „Rufen sie ‚heil‘?!“
„Exakt, Graf. Graf, ich werde dir gleich Ungeheuerliches erzählen. Aber zuerst musst du sie sehen.“
„Wen?“
„Die kleinen Menschen.“
„Kinder?“
„Nein, es sind … ich weiß es noch nicht genau … Klone vielleicht. Experimente. Fehlgeschlagene. Wir sind in einer Art Kerker. Oder Labor? Graf, ich weiß es nicht.“
„Wenn du mich ständig beim Decknamen nennst, bleibt er nicht geheim. Nenne mich einfach Seppo, ist auch für den Leser einfacher.“
Malestoban nickt. Und er lächelt. Er lächelt das Lächeln eines Lächelnden. Wir erreichen eine Tür.
„Graf Seppo, wenn ich diese Tür öffne, wird sich dein Leben ein anderes sein. Du wirst Dinge sehen, die du nicht für möglich hieltst. Bist du dazu wirklich bereit?“
„Nein. Ganz ehrlich? Nein. Also ich bin gerade erst so richtig angekommen im Leben. Du weißt ja, diese ganze Düsseldorfgeschichte mit später Berlin und so. Außerdem gerade Vater geworden, also das passt mir jetzt eigentlich nicht so gut. Andermal vielleicht?“
Doch es ist zu spät. Malestoban öffnet die Tür.
„Hallo? Malestoban? Ich hab doch gerade gesagt …“
Ich halte inne. Wir gehen zwei Schritte und ich realisiere, dass wir auf einer Empore stehen.
„Sieh nach unten, Graf Seppo.“
„Nur Seppo. Lass den Grafen weg.“
Ich sehe nach unten und … nein … das kann nicht sein … ich sehe eine Armee kleinwüchsiger Menschen … vielleicht 25 oder 30 Zentimeter groß … blondes Haar … immer wieder den Hitlergruß zeigend … Heilrufe aus tausenden von Mündern …
„Malestoban, die sehen ja alle aus wie … wie … kleine … das kann doch nicht sein?!“
„Wie kleine Bernd Höckes. Doch, Seppo. Genau so ist es.“
Als sie uns sehen, die kleinen Bernd Höckes, kreischen sie ihre Hitlergrüße noch lauter zu uns hoch.
„Was zur Hölle geht hier vor sich?!“, rufe ich, „Was habt ihr getaaaaaaaaan?“
Wir öffnen schon bald den zweiten Teil der Bernd-Akten. Erfahren Sie dort, welchem Geheimnis die Vollständige Edition auf der Spur ist. Die Bernd-Akten (II): Der Keller des neuen Faschismus.

Dieser Text ist Teil der Vollständigen Edition. Weitere Texte von Seppo auf www.seppo.blog.

Hey Seppo, oder möchtest du als Ehrerbietung deiner
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Hey Seppo,
bevor ich mich wieder im Irrgarten der Anmeldung/des Abonnements etc verlaufe und unvollendete Sätze in die Welt hhinaussschicke nur so viel: hab mich tierisch gefreut und herzlich gelacht über die erste neue Episode , die ich gerade gelesen habe.
Claudia
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