Schreiben, das ist kuratiertes Denken
Willkommen bei der Vollständigen Edition. Vor Ihnen liegt ein noch übersichtlicher, aber wachsender Kanon an den für Sie wesentlichen Texten. Waren Sie bis gerade ein Suchender, so können Sie sich ab sofort zurück- und an meine literarischen Schultern lehnen – bei klarer Aufgabenteilung: Ich schreibe und Sie lesen. Dass ich mich als Esel zuerst nenne, liegt dabei in der Natur der Sache, denn nur bereits Geschriebenes kann gelesen werden. Oder besteht die Kunst doch darin, das Nicht-Geschriebene lesen zu können?
Mein Name ist weitgehend Seppo. Ich bin 1979 in Münster geboren, wo ich mit einer elf Jahre angedauerten Unterbrechung derzeit und für immer wieder lebe. Beide Daten sind wichtig, beide machen mich aus und glücklich. Dieser Text als erster Text der Vollständigen Edition entsteht in meinem 46. Lebensjahr, das ohne Zweifel das beste aller bisherigen ist. Noch vor Kurzem war ich nicht das, was ich nun zusätzlich zu 45 und Münsteraner bin: Ehemann und Vater. Ehemann einer Frau und Vater einer sehr jungen und schockierend unselbständigen Tochter, bei deren Anblick ich immer wieder denke: Wer hätte gedacht, zu welch enorm beeindruckendem Beitrag mein Samen in der Lage ist?! Wüsste ich es nicht besser, müsste ich die Vaterschaft anzweifeln.
Noch bevor die staatlichen Institutionen sich daran machen werden, unserer Tochter das Schreiben beizubringen, wozu natürlich auch das Lesen gehört, werde ich das tun. Denn mir selbst bedeutet das immer wieder neue Kombinieren von Buchstaben und Wörtern ausgesprochen viel: Schon immer und hoffentlich nur ein einziges Mal erwähne hier ich meinen eingestellten Blog, den ich von 2015 bis 2024 mit knapp 1.000 Texten befüllt habe. In seinen ersten Jahren erreichten meine Texte damals tausende Leser. Das werde ich mit der Vollständigen Edition vermutlich nicht mehr erreichen, da ich mich bewusst befreie von den Dingen, die man tun müsste, um seine „Reichweite“ zu erhöhen. Solche Dinge rauben Cait, die dann für das Wesentliche fehlt: Es geht mir nur noch um den bloßen Vorgang des Schreibens. Und was ist Schreiben anderes als das Jonglieren mit und Komponieren aus Wörtern?
Es ist auch das Erfinden von Geschichten, das Vermischen von Wahrem mit Erdachtem, das Eintauchen in das eigene und andere Ich, das immer wieder rätselhafte Lyrische Ich, das sich beim wirklich Schreibenden wiederum nach Außen kehrt. Wenn das Schreiben eine Dimension eines Menschen ist, dann ist dieser Mensch auch das, was er schreibt – und Schreiben war, darauf wollte ich eigentlich hinaus, merke ich gerade, schon immer meine präferierte Ausdrucksform. Denn: Es wird zu viel geredet – das ‚Ganze eine Rederei‘. Vor dem Reden ist selten Denken und das verhält sich beim Schreiben ganz anders: Schreiben, das ist kuratiertes Denken. Und damit hätten wir auch die Überschrift dieses Textes. So funktioniert Schreiben; bei mir: Im ersten Absatz herrscht blanke Ahnungslosigkeit darüber, was Inhalt des zweiten sein wird. Aber auch die absolute Gewissheit darüber, dass sich schon etwas ergeben wird. Das ist nichts, was geplant werden muss. Wirklich gutes Schreiben, also wirklich beherrschtes ist keines, das man planen müsste. Und dieses ist ja bereits der vierte Absatz, voran geht es also immer irgendwie. Was kommt wohl im nächsten Absatz?
Der faire und entlarvende Hinweis darauf, was Sie hier erwartet: Die Genese eines Findungsprozesses, da ich mir noch nicht im Klaren darüber bin, was hier künftig passiert. Die Kunst ist es, sich nichts vorzunehmen und selbst keine Erwartungen zu haben, denn die müsste man dann ja erfüllen. Und das wäre nicht zwanglos, das wäre ein Korsett, das nur blockierte. Es erwartet Sie das Wort Ich in überwältigendem Ausmaß und es liegt an Ihnen, ob sie das ertragen wollen oder nicht.
Als ich vor zehn Jahren begann, vor einer wenn auch übersichtlichen Öffentlichkeit zu schreiben, war ich ganz offensichtlich 35 Jahre alt und bewegte mich in einer vollkommen anderen Lebenswelt. Mit einigem Stolz kann ich sagen, dass ich diese überwunden hatte, nachdem ich nach langem, proaktiven Phlegmatismus ein, zwei Schalter umgelegt hatte, wonach plötzlich alles möglich war und seltsamerweise auch wurde. Meine damalige Rückkehr in meine Heimatstadt (Ich erwähne sie gerne noch einmal: Münster.) war Ursprung und Symptom dieses Neuanfanges zugleich: die folgenschwerste Leistung meines Lebens. Und zu der neuen Lebenswelt gehört auch das inzwischen auf niedrigem Niveau fortgeschrittene Alter. Das Älterwerden ist derweil mein Lieblingsthema geworden, da es mich fasziniert und ich weit davon entfernt bin, es zu beklagen. Denn bislang ist jedes neue Lebensjahr das seither beste. Ich würde alles dafür geben, nicht noch einmal 20, 25, 30 oder 39 sein zu müssen. Altern ist ein Privileg, zumal wir nie wissen, ob wir wirklich die Chance bekommen, alt werden zu dürfen. Daher ödet mich das ja ohnehin meist ironisch gemeinte Klagen über das Älterwerden an. Ich bin froh, meine 45 zu sein und nicht diese wurstige 25-jährige Variante von mir. Richtig gut wurde es erst ab 40. Ich bin also gespannt, wie es sich anfühlt, wenn ich in zehn Jahren meine erste Lebenshälfte werde abgeschlossen haben …
Seit ich in die Tiefen der Weltliteratur eingestiegen bin (Gerade vollende ich das Werk „Jahrestage“ von Uwe Johnson, den wir wider Erwarten nicht etwa „Johnson“, sondern tatsächlich „Johnson“ aussprechen.), bin ich allerdings schwerstens entmutigt, wenn es um die Bewertung meiner Schreibkünste geht. Das erstreckt sich über zwei wesentliche Dimensionen: die semantische wie die inhaltliche. Zur inhaltlichen ist vollkommen klar und akzeptiert, dass ich da nicht viel zu bieten habe. Mich faszinieren die scheinbar so simplen Ideen, die zu großen Werken wurden und beispielhaft nenne ich spontan zwei Werke, die heute als Kinderliteratur durchgehen: „Alice hinter den Spiegeln und im Wunderland“ und „Pu, der Bär“. Wenn beide Geschichten so fertig, wie sie nun einmal sind, vor einem liegen, wundert man sich, zu welchem Wirken die dahinter steckenden Ideen fähig sind. Und überhaupt sind es Kindergeschichten, die am schwersten zu erdenken sind, obwohl oder weil bei ihnen die Gesetze der Natur keine Rolle spielen. Sie missachten zu dürfen, eröffnet einem unendliche Möglichkeiten. (Kafka, den ich immer wieder zitieren werde, hat das übrigens auch in den Nicht-Kindergeschichten getan – ein Vorbild!) Ich versuchte mich einmal an einer Geschichte, der ich den Namen „Herr Sonderlich und das Rumpeln im Baum“ verpasste. Den Titel musste ich gerade ergooglen, hatte ihn nicht mehr parat – und finde ihn gar nicht so schlecht. Allein das Konstruieren einer ganzen Lebenswelt samt ihrer Geschichte war mir zu aufwendig. Aber die fertigen Kapitel, ich muss schon sagen … nicht schlecht. Aber es war auch richtig Arbeit. Da gefielen mir meine Kurzgeschichten um Herrn Abendfahl leichter. Ihn werde ich wieder aufgreifen: Jedes Jahr um Weihnachten herum … Herr Abendfahl und das Mädchen mit der Rakete …
Inzwischen weiß ich, es ist müßig, sich krampfhaft Universen auszudenken. Es wird nicht funktionieren. Die Universen kommen zu uns, nicht umgekehrt. Und ich kann warten. Sie werden kommen, wenn ich am wenigsten damit rechne. Also im Prinzip jetzt gleich. Wenn nicht, dann nur, weil ich zu einem späteren Zeitpunkt offenbar noch weniger damit rechnen werde. Aber wie wenig kann man rechnen? Also gibt es ein mit etwas am wenigsten Rechnen? Ich finde, ich rechne gerade schon sehr wenig damit. Kaum vorstellbar, dass das noch weniger werden kann. Aber muss ja, die Beweiskette ist da eindeutig, denn sonst hätten die Universen mich ja jetzt schon heimgesucht. Es bleibt spannend.
Die zweite Dimension, die semantische: Hier hilft nur Lesen, Lesen, Lesen. Sonst wird das nichts. Je mehr man an Texten unterschiedlichster Form konsumiert, desto fähiger wird man selbst. Das ist ein Automatismus. Man lernt durch Abgucken und nennt es dann einfach Inspiration. Und eine meiner wichtigsten Erkenntnisse nach Jahrzehnten des Schreibens: Mut zu Füllwörtern. Wer Füllwörtern seine Missachtung schenkt (Ich entschuldige mich bei Wolf Schneider, dem meine Meinung allerdings egal sein dürfte.), hat eben nicht begriffen, sie richtig einzusätzen. Apropos Sätzen: Sätze können gar nicht zu lang und zu verschachtelt sein. (Ich schreibe diesen Text in WordPress. Die WordPress-eigene KI weist mich gerade darauf hin, dass meine Sätze zu verschachtelt seien. Die Funktion gefällt mir.) Für einfache Sätze habe ich einfach zu viel Zeit.
Ich schreibe an einem Rechner auf einer Tastatur, die für gaming gemacht ist. Sie leuchtet also in allen erdenklichen Farben. Das „B“ ist etwas kaputt, da es beim Druck der B-Taste immer doppelt erscheint. Nach jedem „B“ muss ich also einmal die Rücktaste betätigen, um das überschüssige „B“ zu tilgen, sofern kein Doppel-B vorgeschrieben ist. Blicke ich nach rechts, blicke ich auf die Werke von Kafka, Dostojewski, Gogol, Goethe und auch Schiller (Schiller ist schlimm übberschätzt, ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, ihn zu unterschätzen, als Ausgleich gewissermaßen. Und haben sie das falsche Doppel-B entdeckt?), ich sehe E.T.A. Hoffmann, Heinrich Heine, Theodor Storm und ja, sogar Thomas Morus und stelle fest: Alle tot. Ich nicht. Und daher habe ich den posthumen Ruhm noch vor mir. Und nebenbei: Den Umfang des Werkes von Kafka habe ich bereits deutlich übertroffen. Nur seine Bescheidenheit, die untertreffe ich.
Heute startet also die Vollständige Edition. Damit tue ich, was ich kann, und das lege ich auch Ihnen nahe: Tun Sie im Zweifel ausschließlich das, was Sie können, und beachten Sie dabei stets den Kategorischen Imperativ.
P.S.: Bitte beachten Sie meine Einstellung bezüglich allem, was Freiheit bewusst einschränkt, und meinen Hinweis darauf, dass die AfD eine Ansammlung von Faschisten und Nationalsozialisten ist. Ich weiß, das ist derzeit wieder eine Auszeichnung, darum wird die Neo-NSDAP ja auch gewählt. Und wer AfD wählt, wählt Nazis, ist ein Nazi ist ein Nazi ist ein Nazi …
Im Juli 2025 schrieb ich diesen Text, den ich Ihnen im obigen Zusammenhang gerne nahelege:
Schreiben ist reine Selbstbefriedigung
Kürzlich las ich im „Spiegel“ ein Interview mit Martin Sutter, einem Schweizer Schriftsteller, der da sagte: „Und so wie ein Schreiner keine Hobelblockade haben kann, sollte ein Schriftsteller auch keine Schreibblockade haben.“ Klingt bestechend logisch, ignoriert aber die Tatsache, dass es Schreibblockaden nun einmal gibt. Oder ist die Schreibblockade schlicht eine Ausrede für den Fall,…
Weiterlesen …
Es erfreut mein Herz, und beim Lesen dieser ersten Zeilen weiß ich, dass wird eine gute Zeit. Und ich habe wieder eine Möglichkeit mehr, bei anderen „abzuschreiben“ bzw. die „Inspiration einzusammeln“.
Aktuell bin ich mal wieder unterwegs und versuche mich am Jonglieren mit Buchstaben und Wörtern: https://hinternewyork.wordpress.com
Also, ich freu mich auf Weiteres aus Münster (da muss ich nun endlich auch einmal hin).
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Herr Flotho!
Sie sind/waren mein allererster Follower auf meinem 2014 begonnenen Dilettanten-Blog. Der inzwischen auch seinen Namen geändert hat. Der Speicherplatz für Fotos war nämlich voll.
Der neue Name „seppoblog“ statt „seppolog“ ist wie immer geistreich, nahezu genial. Es wird mir eine Ehre sein, Ihnen auch hier weiterhin zu folgen.
Was hiermit geschehen ist.
Liebe Grüße
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