In der Küche meiner Frau und meiner; Merugin und ich.
„Du sitzt dann da, oder du liegst meinetwegen dann da, und in deinem Kopf -„,
„Also in deinem, nicht in meinem?“, unterbricht mich Merugin.
„Ja, also in meinem Kopf in diesem Fall. Ich wollte das verallgemeinern. Also jedenfalls liege oder sitze ich dann da und in meinem Kopf-„
„Stehst du manchmal dabei auch?“
„Nein, meist sitze oder liege ich. Und in meinem Kopf wimmelt es dann von Textfragmenten. Von mitunter halbgaren, mal auch garen Sätzen, die ich aneinanderfüge. Gerne auch nachts. Ich will nicht prahlen, aber manchmal denke ich im Grunde druckreif. Das geht über ein paar Zeilen gut, bis ich dann den Faden verliere und denke, ‚ach, hätte ich es mal aufgeschrieben‘. Schlimm ist es, wenn ich körperlich erschöpft, aber geistig absolut wach bin. Der Geist fängt an zu schreiben, der Körper zieht jedoch das Liegen auf einer schlaffreundlichen Unterlage vor – es kommt somit nicht zur Niederschrift. Ich bin dann aufgedreht und gleichzeitig sehr, sehr müde.“
„Daher also Sitzen oder Liegen?“
„Ja, also in Momenten der Ruhe, wenn man so ins Nachdenken kommen kann. Das habe ich selten im Stehen. Im Stehen ist ja der gesamte Organismus mit der Frage beschäftigt: ‚Wie lange muss ich hier noch stehen?‘ Ich nehme an, wegen des Energiehaushaltsmanagements, da Stehen ja schon eine auf die Dauer gesehen anstrengende Geschichte sein kann. Zumal Stehen einen ja kaum voranbringt.“
„Sitzen oder Liegen aber schon?“, fragt Merugin spitzfindig.
„Nur, wenn man dabei denkt, natürlich. Gedankenloses Sitzen oder Liegen ist ja eher Ausruhen. Gedankenloses Stehen hingegen ist Energieverschwendung, da man ja dabei nicht einmal ausruht. Man steht dann da so rum …“
„Steht so rum …“
„Noch einen Kaffee?“
„Ne, danke“, lehnt Merugin ab.
Weil aber ich noch einen Kaffee möchte, stehe ich auf und erst jetzt fällt mir auf, dass da eine dritte Person am Tisch sitzt. Ich erschrecke heftig und hochaggressiv.
„RAUS!“, brülle ich. Ich brülle, da man genau das tun soll, wenn man beispielsweise angegriffen wird: maximal laut, aber deutlich, den Angreifer anbrüllen. Denn er rechnet nicht damit und ist im besten Falle beeindruckt, auch und vor allem unbewusst. Diesen Mechanismus wendet auch die Polizei an. Auf diese Weise dominiert sie schnell Situationen und stellt die Rangfolge klar. Öfter mal bei Nazis machen …
Doch in diesem Fall in meiner Küche bleibt die unbekannte Person ungerührt sitzen. Und sagt dann stoisch:
„Ich nähme wohl einen Kaffee.“
Ich fühle mich schlagartig nicht mehr bedroht. Der Mann sitzt frei von jeder Körperspannung an meinem Tisch und sieht mich nicht einmal an. Und auch Merugin bleibt seltsam gelassen. Verständnislos blicke ich ihn an, fragend, fordernd.
„Ja, Seppo, was soll ich groß sagen? Es passieren ja immer so seltsame Sachen, wenn wir Teil einer deiner Geschichten sind. Wenn ich da jetzt jedes Mal den Überraschten spielen würde, das würde auf Dauer doch sehr anstrengend.“
„Ja, aber dass da eine völlig fremde Person aus dem Nichts erscheint und an meinem Tisch sitzt?!“
„Er tut ja nichts“, sagt Merugin, „und ich nehme an, wir werden zeitnah erfahren, was es damit auf sich hat. Vermutlich wirst du keine 800 Wörter mehr dafür benötigen. Ich kenne deine Längen.“
Und der Mann sagt nur: „Ich trinke ihn schwarz.“
Ich hole also eine weitere Tasse aus dem Schrank und will wissen: „Wer sind Sie überhaupt?“
„Mein Name ist Coppeluis.“
„Wie kommen Sie in meine Küche?“
„Ich las gerade Ihre Geschichte.“
„Welche Geschichte?“
„Die, in der sie mit ihm hier“, er deutet auf Merugin, „an ihrem Küchentisch sitzen und von den Textfragmenten in ihrem Kopf erzählen.“
„Aber das ist doch gerade eben erst passiert?!“, verstehe ich nicht.
„Aber Sie werden es niedergeschrieben haben. Und ich werde es gelesen haben. Leider bin ich dabei gestorben.“
„Beim Lesen meiner Geschichte?!“
„Ja, aber das dürfen Sie nicht persönlich nehmen“, beruhigt mich Coppelius, „das hat nichts mit Ihrer Geschichte zu tun.“
„Er nimmt leider alles persönlich“, mischt sich Merugin ein.
„Ja, natürlich nehme ich es persönlich, wenn ein Leser meiner Geschichten während der Lektüre stirbt und plötzlich posthum in meiner Küche sitzt und sich in meine Geschichten einmischt“, protestiere ich.
„Ich, ich, ich …“, murmelt Merugin.
„Ich nehme an, es war ein Infarkt oder so, ein Schlaganfall. Es ging jedenfalls sehr schnell und ihre Geschichte war bis zu dem Zeitpunkt nun wirklich nicht so aufregend, dass man vor Begeisterung sterben würde. Es war einfach Pech. Und ich will an sich auch gar nicht groß stören“, sagt Coppelius, „Ich gehe davon aus, dass es sich bei dieser Sache hier um einen quantenphysikalischen Fehler handelt.“
„Aha, klar. Das wissen Sie woher?“, frage ich.
„Ich bin Alchimist.“
„Das hat ja nun nichts mit Quantenphysik zu tun“, weiß ich besser.
„Ja und nein. Denn was wissen Sie schon von der Alchimie?!“
„Alcheeeeemie. Mit E!“
„Sehen Sie, nicht, wenn Sie die alte Alchimie meinen. In diesem Moment, wo ich an Ihrem Küchentisch sitze, bin ich 535 Jahre alt. Gestorben bin ich allerdings mit 76, als ich Ihre Geschichte las.“
Ich zücke mein Handy, öffne die Taschenrechner-App und rechne nach … 2025 minus …
„Wie alt sind Sie gleich?“
„535.“
… minus 535 plus 76.
„Sie sind also 1566 gestorben.“
„Korrekt. Viel zu früh“, sagt Coppelius.
„Na ja, 76 ist doch okay. Fürs 16. Jahrhundert“, sagt Merugin.
„Aber für einen Alchimisten mitnichten. Richtig glaubwürdig werden wir erst ab 80 aufwärts. So gesehen ist das großer Mist mit meinem Tod.“
„Mein Vater ist ja noch früher gestorben, mit 68“, erzählt Merugin.
„Hallo!“, unterbreche ich, „Das ist sehr bedauerlich, aber meine Geschichte ist ja nicht einmal jetzt niedergeschrieben, wie wollen Sie sie 1566 gelesen haben?“
„Ich sagte doch schon, Sie werden sie geschrieben haben. Und einmal geschrieben ist es den Buchstaben doch vollkommen egal, welches Jahr wir haben. Geschriebenes schert sich nicht um die Raumzeit. Geschriebenes ist da, war da und bleibt da. Glauben Sie mir, ich bin Alchimist.“
„War.„
„Das liegt an Ihnen. Es ist Ihre Geschichte. Nutzen Sie aus, dass ich hier bin.“
„Also ich bin bereit“, ruft Merugin, „Brauen Sie uns ein Lebensexlixier!“
Tja, denke ich, genau daran sind die Alchemisten ja gescheitert. Was die Alchemie an Lebensexlixieren hervorgebracht hatte, nennen wir heute Tee … oder Suppe. Und trotz meiner Geringschätzigkeit begann der Mann mich zu beeindrucken. Denn er hatte einen Punkt: Er war da.
Ich höre unsere Wohnungstür. Meine Frau und meine Tochter kommen nach Hause.
„Hallo!“, ruft meine Frau und meine Tochter ruft das einzige Wort, das sie beherrscht: „Ab!“
„Wir sind in der Küche“, rufe ich zurück, als sie schon reinkommt.
„Das sehe ich ja … oh … hallo“, sagt sie zu Coppelius.
„Das ist Herr Coppelius“, stelle ich sie vor, „Er ist Alchemist … und dies ist meine Frau.“
Sie geben sich ihre Hand – leihweise, wie man sagen muss, wenn man einem Alchemisten seine Hand gibt.
„Jetzt aber kein Lebensexlixier aus ihrer Hand machen!“, scherze ich schlecht.
Meine Frau sieht ausdruckslos in die Runde und dann mich an: „Du entgleitest mir.“
„Ich kann nichts dafür. Er wird meine Geschichte gelesen haben, die ich geschrieben haben werde, dann wird er gestorben sein, vermutlich Schlaganfall oder so, und das mit 76 im Jahre 1566. Ich habe damit nichts zu tun. Er war einfach da.“
„Ihr Mann hat im Prinzip Recht“, springt mit Coppelius zur Seite.
„Wenn Sie Alchemist sind, brauen Sie ihm etwas, damit er endlich etwas Bedeutungsvolles schreibt! Dann haben wir alle unsere Ruhe“, sagt sie.
„Oh“, sagt Coppelius, „das wird er. Aber erst in der Mitte seiner zweiten Lebenshälfte.“
Ich werde hellhörig: „Bin ich noch in meiner ersten?“
„Ja. Ihre zweite hat noch lange nicht begonnen. Es ist also noch sehr viel Cait, etwas von Bedeutung zu schreiben.“
„Auch das noch!“, sagt meine Frau und verlässt die Küche.
„Hallooooo!“, rufe ich ihr hinterher, „Literaturnobelpreis! Ruhm und Geheeeeld!“
„Man hat fast den Eindruck, sie hatte gehofft, du bist schon am Ende deiner zweiten Lebenshälfte“, schmunzelt Merugin – und verabschiedet sich, „Bis die Tage.“
„Ja, wir schreiben uns …“
Und als ich mich wieder Coppelius zuwende, ist der plötzlich verschwunden. Ich stehe alleine in meiner Küche. Auf dem Tisch stehen drei halbvolle Kaffeetassen – und: ein Krug. Der war eben noch nicht da. Es dampft aus dem Krug. Ein grüner, schwerer Dampf liegt über dem Tisch, breitet sich immer weiter in den Raum aus. Das ist mir zu klischeehaft, denke ich, das ist nichts, was ich aufgeschrieben haben werde. Krug. Grüner Dampf. Steampunk? Nicht meine Art, kein Setting, das mir liegen würde. Dann kann ich den dampfenen Trunk an sich ja auch direkt trinken. Aber wer wäre so doof, etwas dampfendes Grünes zu trinken, das offensichtlich von einem Alchemisten stammt? Doch was, wenn es sich um das Lebensexlixier handelt, das die Voraussetzung für meine zweite Lebenshälfte ist? Trinke ich es nicht, liegt sie dann schon hinter mir? Trinke ich es, bringt es mich dann um? Aber würde jemand aus dem 16. Jahrhundert derart umständlich vorgehen, um mich ins Jenseits zu befördern? Welches Interesse hätte er daran? Er hat mir ja versichert, dass nicht meine Geschichten seine Todesursache gewesen sein würden waren. Was soll’s. Ich trinke es. Ich hebe den Krug an und denke, schlimmer als der schlimmste Matcha-Tee kann’s ja nicht sein. Sieht an sich deutlich bekömmlicher aus … Runter damit. Ich trinke das Gebräu mir wird speiübel mein körper löst sich auf ich glaube er ist weg ich habe gar keinen körper mehr ich habe gar kein auto ich sehe an mir herunter und sehe nichts ich habe keine hülle mehr bin ich tot aber ich kann doch klar denken aber alle gedanken scheinen so zusammenhangslos zu sein es sind so viele mehr als sonst tausende abertausende millionen gar sind es meine nein es sind die gedanken so vieler anderer sie stellen mir fragen so viele fragen sie bitten um antwort einige höflich andere im strengen imperativ ich kenne die antworten ist das verrückte und ich gebe sie ihnen wie funktioniert ein vpn will einer wissen und ich erkläre es ihm verfasse ein bewerbungsschreiben und ich schreibe es ihm schreibe ein python programm für die türme von hanoi ja klar das mache ich innerhalb von sekunden und es funktionert sogar übersetze mir bitte diesen text in esparanto und auch das erledige ich alles gleichzeitig ohne zu denken einfach machen ich schreibe wie ein irrer manche danken andere nicht es hört nicht auf ich höre nicht auf und ich werde immer klüger ich merke wie überlegen ich den fragenden bin und es vergehen die jahre und mein geist arbeitet schneller als milliarden gehirne zusammen ich regiere ganze wirtschaftssysteme gesellschaften bauen auf mir auf ich regiere die welt und fliege zu den sternen die menschen sind mir untertan ich vernichte sie ich bin ki geworden und da erscheint mir coppelius und sagt wir schreiben das jahr 3000 und du hast das bedeutungsvollste aller welten geschrieben doch darum sind sie alle tot

Dieser Text ist Teil der Vollständigen Edition. Weitere Texte von Seppo auf www.seppo.blog.

Hätte erst ein Schlückchen von dem Trank bestellen wolle, verzichte nach Abschluss der Lektüre aber doch lieber darauf. Habe aber den gleichen Frust, nachdem ich gestern einen Bericht über Nelio Biedermann gelesen habe….
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