Die folgende Geschichte schrieb ich im November 2016. Es ist eine von seitdem bislang sieben Geschichten um Herrn Abendfahl, der seinen ersten Auftritt schon 1997 hatte, als ich mich an der Kurzgeschichte „Herrn Abendfahls Vaterfreuden“ versucht hatte. Er ist damit eine meiner ältesten Figuren, erhielt aber erst vor rund fünf Jahren die Konturen, die ihn gegenwärtig ausmachen. Und womöglich weiter ausmachen werden. Denn in den zurückliegenden Jahren wurden die Geschichten um Herrn Abendfahl zu Weihnachtsgeschichten. Diese Tradition will ich Ende dieses Jahres weiterführen.

Das Beitragsbild stammt aus der Feder meiner Frau, die schon immer die Bilder zu Herrn Abendfahls Geschichten gezeichnet hat.

Und um Sie als Leser der Vollständigen Edition mit ihm vertraut zu machen, veröffentliche ich hier noch einmal:

Herr Abendfahl und das Mädchen mit der Rakete

Das ist jetzt schon eine ganze Weile her. Herr Abendfahl denkt sogar manchmal, das habe sich nie zugetragen, so unwirklich scheint es ihm mitunter. Aber er hat ja noch diesen bemerkenswerten Stein …

Den Stein von dem Mädchen mit der Rakete.

Es ist ein Tag in einem Herbst. In der zweiten Hälfte eines Herbstes, die mit der oftmals goldenen ersten nichts mehr zu tun hat. Mutet es zunächst noch sinnlich an, durch das trockene, herabgefallene Laub zu tapern, wird es irgendwann eher ungemütlich – der Winter wirft seinen Schatten voraus: Es ist kalt und windig, als Herr Abendfahl in einem Park Unterschlupf vor dem Regen sucht. In der Ferne beobachtet er einen Hund, der wohl dasselbe tut, und ahnt nicht, dass er diesen Hund bald schon wiedertreffen wird.

Doch es ist nicht der Hund, der Herrn Abendfahls Aufmerksamkeit beansprucht, sondern das Mädchen, dem der Regen nicht anficht.

„Hallo?!“, ruft Herr Abendfahl dem Mädchen zu und stellt fest, dass „Hallo“ ein Universalwort ist, aber immer noch höflicher als ein „Hey!“. Hätte er ja auch rufen können. Ja, warum eigentlich nicht, denkt er.

„Hey!“

Das Mädchen blickt sich um, sieht Herrn Abendfahl, der ihm nun zuwinkt und noch einmal ruft:

„Hallo!“, jetzt betont freundlich; das Mädchen soll ja keine Angst bekommen.

Bekommt es auch nicht. Es zeigt sich unbeeindruckt von dem Herrn im Anzug, dessen Hutkrempe völlig durchnässt herunterhängt, was jetzt auch Herr Abendfahl realisiert.

„So ein Schlamassel! Der Hut ist hinüber. Wie kann denn so etwas ausgerechnet mir passieren?!“

Er nimmt den Hut ab, hält ihn in Richtung des Mädchens, während der Regen sich wie aus Kübeln ergießt. Mit seiner anderen Hand deutet Herr Abendfahl auf den Hut und ruft:

„Mistwetter!“

Das Mädchen verzieht zunächst keine Miene, lässt seinen Blick dann an sich selbst herunterwandern, um schließlich wieder zu Herrn Abendfahl zu blicken.

„Ja, stimmt ja“, sagt der, „ich hab wenigstens einen Hut. Aber du, du hast du nur ein Kleidchen!“

Unpassender kann man sich für ein solches Wetter nicht anziehen, denkt Herr Abendfahl und beschließt, zu dem Mädchen hinüberzugehen.

„Wenn du nicht kommst“, ruft er, „komme halt ich!“

Etwas ärgerte ihn das schon, da er es bislang vermeiden konnte, spürbar nass zu werden. Das Mädchen hingegen hatte nichts zu verlieren, es war ja schon nass. Und so gibt er seinen Unterschlupf auf.

„Dann werde ich eben auch nass!“, sagt er trotzig.

Ein sonderbares Persönchen, denkt sich Herr Abendfahl, fast schon etwas wütend. Was zur Hölle treibt dieses vielleicht zehnjährige Mädchen alleine im Regen in jenem Park?!

„Na? Mit wem habe ich die Ehre?“, fragt er.

„Hä?!“ Das Mädchen versteht nicht.

„Na, wie du heißt!?“

„Juna. Aber ich darf nicht mit fremden Männern sprechen.“

„Ich vermeide das selbst auch immer. Überwiegend Idioten dabei. Ich will dich – und vor allem mich – auch gar nicht lange aufhalten. Aber es ist ungünstig, dass du hier bei diesem Wetter, ich meine, dieses Kleid nur, also, ist dir nicht kalt? Was machst du überhaupt hier? Und vor allem: Was ist das da?!“

Herr Abendfahl lässt seinen Mund offen und staunt, während er auf etwas zeigt, das aussieht wie eine …

„Rakete. Das ist meine Rakete“, sagt das Mädchen.

Natürlich. Rakete, denkt Herr Abendfahl bei sich und sagt: „Das wird mir hier gerade aber eine Spur zu unwirklich.“

Aber ja, es sieht aus wie eine Rakete. Nicht groß, aber groß genug für das Mädchen, das jetzt ins Plaudern gerät: „Ich fliege gleich auf den Mond.“

„Hahahahaha! Ja“, sagt Herr Abendfahl. Und schweigt. Sieht sich die Szene noch einmal genau an. Und hält es nun für möglich, dass er hier Zeuge von etwas ist, dass man „Spielen“ nennt.

„Du meinst, du spielst, dass du gleich zum Mond fliegst?“, fragt er.

„Was? Nein. Ich fliege häufig auf den Mond. Hier, guck, Mondgestein“, erklärt es und reicht Herrn Abendfahl, mit dem sie gar nicht sprechen dürfte, einen Stein. Der Stein ist hellgrau, vielleicht sogar weiß.

„Den hast du vom Mond mitgebracht? Den Stein? Von dem Mond da oben?“, hakt Herr Abendfahl kritisch nach und deutet dabei auf den leuchtenden Halbmond.

„Ja. Nicht direkt mitgebracht. Er hat sich unter meiner Rakete verfangen. Muss schon bei der Landung passiert sein.“

„Vermutlich. Ja. Altes NASA-Problem. Juni, sag mal …“

„Juna!“

„Was?“

„Ich heiße Juna nicht Juni.“

„Oh, Verzeihung. Also, Juna. Wenn du zum Mond fliegst, was tust du dann da oben?“

„Ich denke nach.“

„Dazu muss man aber doch nicht gleich auf den Mond?!“

„Doch. Denn hier auf der Erde kann ich nie zuende denken. Es kommt immer wer und stört. Wie du zum Beispiel gerade.“

Herr Abendfahl lacht. Diese Chuzpe!

„Und wieder bitte ich die kleine Juni um Verzeihung.“

„Juna.“

„Pardon, ja, Juna. Aber ich suchte lediglich Unterschlupf vor dem Regen. Der dir offensichtlich völlig egal ist.“

„Ich habe einen Ofen in meiner Rakete. Ich wärme mich gleich auf.“

„Da passt kein Ofen rein, Juni. Da passt gerade einmal du rein. Und das war’s dann auch schon.“

„Juna Es ist sehr geräumig. Ich würde dich ja mitnehmen, aber dann sind wir zu schwer. Das schafft mein Antrieb nicht.“

„Natürlich, das schafft dein Antrieb nicht“, murmelt Herr Abendfahl und schüttelt den Kopf und sagt mehr zu sich als zu dem Mädchen: „Das ist alles Einbildung. Ich muss überanstrengt sein.“

„Vielleicht soll ich nicht mit fremden Männern sprechen, weil sie komische Fragen stellen. Ich habe dir den Stein gegeben. Wenn du ihn morgen noch immer bei dir hast, bin ich echt. Wenn nicht, bin ich deine Einbildung.“

Herr Abendfahl weiß, dass er weit davon entfernt sein müsste, dem Mädchen Glauben zu schenken. Doch das ist er nicht. Er erwischt sich dabei, wie er dem Mädchen glauben will, obwohl sein Kopf sich dagegen wehrt. Sein ganzes Leben lang fährt Herr Abendfahl die rationale Schiene, auf der er sich alles erklären kann. Doch dieses Erlebnis entzieht sich jeder Erklärung. Denn diese Rakete, sie sieht aus, als, ja, als könne sie wirklich abheben.

„Wie lange dauert ein Flug zum Mond, Juni?“

„Juna … Eine halbe Stunde etwa.“

„Ha! Nie im Leben! Jetzt hab ich dich! Drei Tage bräuchte man!“

„Also ich schaffe es immer in einer halben Stunde.“

„Und wie lange bleibst du dann?“

„Solange die Luft reicht.“

„Ja, die Frage war dumm. Worüber denkst du dann nach? Auf dem Mond?“

„Darüber, wie gut ich es habe.“

„Warum hast du es gut?“

„Weil ich einen Freund habe.“

„Erzähl dem nichts von der Mondnummer. Dann hast du ihn nicht mehr.“

„Er weiß davon. Denn er wohnt auf dem Mond.“

„Natürlich. Er wohnt da …“

Es hört auf zu regnen. Da ist dieses junge Kind. Das eigentlich noch nicht fähig zu Ironie sein dürfte. Doch pariert es trocken jede Frage Herrn Abendfahls, als sei es das normalste der Welt, zum Mond zu fliegen.

„Juna. Es hat mich gefreut, dich kennengelernt zu haben. Vermutlich glaubst du wirklich, dass du gleich zum Mond fliegst. Warum auch nicht. Wenn es hilft. Ich wünsche dir eine gute Reise. Ich werde deinen Mondstein mitnehmen und gut auf ihn aufpassen.“

„Was ist mit deinem Hut?“

„Mein Hut? Der Regen. Er wurde nass.“

„Ist er kaputt?“

„Ich glaube.“

„Mein Freund kann ihn reparieren.“

„Der Mondmann?“

„Er ist Hutmacher.“

Herr Abendfahl antwortet nicht. Er ist überfordert. Und reicht dem Mädchen den Hut.

„Und wenn wir uns wiedersehen, gebe ich dir den Hut zurück.“

Herr Abendfahl nickt dem Mädchen zu, dreht sich um und geht. Und denkt:

„Wenn ich jetzt zurückblicke, sehe ich vermutlich, wie sich die Rakete in die Luft bewegt …“

Herr Abendfahl zögert, dreht dann doch seinen Kopf und sieht, wie …


Ja, war eine andere Zeit, fast zehn Jahre ist das her. Mein Schreibstil hat sich weiterentwickelt, zum Besseren. Daher habe ich einige Stellen umgeschrieben und meinen heutigen Ansprüchen angepasst.

2020 schrieb ich nach vier Jahren Pause die Fortsetzung. Auch die werde ich hier demnächst veröffentlichen, bevor es dann gegen Jahresende mit einer neuen Geschichte um Herrn Abendfahl weitergeht.


Dieser Text ist Teil der Vollständigen Edition. Weitere Texte von Seppo auf www.seppo.blog.