Die wenigsten sterben gerne jung, vermutlich sogar niemand. Und wenn doch, dann womöglich unter den unterschiedlichsten Zwängen. Und um also das Glück haben zu können, alt zu werden, muss man, nachdem man jung war und freilich auch währenddessen, erst einmal und vor allem in gesundem Rhythmus stetig älter werden. Alt ist also nur der, der ausreichend älter geworden ist. Woraus folgt, dass die wenigsten Alten jung sterben.

Ich selbst bin auf einem guten Weg: Ich bin jung und werde zunehmend älter. Das ist ein fantastischer Zustand und hat sich auch zu meinem 46. Geburtstag nicht geändert, der mich innerhalb meiner ersten Lebenshäfte ein bisschen weitergebracht hat. Und wie auch die bisherigen meiner Geburtstagssammlung war auch dieser nicht besonders spektakulär. Meine einzige Geburtstagstradition besteht lediglich darin, pünktlich und dieses Jahr erstmals unter Beachtung des neuen Postgesetzes, das eine verlangsamte Briefzustellung erlaubt, meine Geburtstagsausladungen zu verschicken.

„… lade ich dich hiermit herzlich zu meinem Geburtstag aus …“, murmele ich beim handschriftlichen Verfassen des Briefes, der an Merugin gehen wird.

„Du schreibst mit Füller?“, fragt meine Frau, als sie in meinen Elfenbeinturm tritt.

„Ja, das sind die Ausladungen zu meinem Geburtstag. Du bekommst auch eine.“

„Ich hatte gar nicht vor, an deinem Geburtstag hier zu sein. Was planst du denn?“

„Ich werde Rumcola trinken und mich an meiner Person erfreuen.“

„So viel kann ein Mensch kaum trinken“, sagt sie und geht wieder.

Vor mir liegt das neue Buch von Heinz Strunk. Es ist nicht überraschend, aber doch irgendwie seltsam, wie dieses Werk in den Feuilletons besprochen wird: als Meisterwerk. Heinz Strunk hat es wirklich geschafft.

„Ich habe vermutlich zu wenig gelitten“, sage ich zu mir selbst und schlage das Buch auf. Und denke, seltsam, ich kann es nicht mit und ich kann es kaum ohne Brille lesen. Und rufe meine Frau.

„Was denn?“, kommt sie herein.

„Wie seltsam klein dieses Buch gedruckt ist. Oder groß. Oder meine Brille hat gerade keinen Empfang“, erkläre ich und gehe mit Buch und Brille ans Fenster, „Wird auch nicht besser. Das ist ein Fehldruck.“

Meine Frau nimmt das Buch, blättert kurz und sagt: „Das ist kein Fehldruck, du bist nur inzwischen gleitsichtig geworden. Du wirst ja auch 46.“

„Ich habe seit mehr als 20 Jahren dieselbe Brille!“, protestiere ich, bevor mir dann aber die Igel-Geschichte einfällt. Ihr auch:

„Du hast drei Igel auf deinem Gewissen!“, hält sie mir vor und spielt damit geschickt auf einen Vorfall vergangener Woche an. Wir waren unterwegs im Auto und fuhren ziellos durch Münster, da ich testen wollte, ob man dauerhaft mit 30 durch die 50er-Zonen fahren kann, da ich es mir angeeignet habe, mir beim Fahren die Stadt anzusehen, mit der ich in einer schon bedenklich fetischhaften Beziehung lebe. Häufig schon hatte m,ich meine Frau davor gewarnt, beim Fahren immer nur nach links, rechts und hinten zu gucken, nur weil mir wieder eine Baustelle oder architektonische Neuerung aufgefallen war. Kürzlich zum Beispiel:

„Guck mal, hier bauen sie das Stadthaus 4. Keller ist schon ausgehoben. Das wird ein fantastischer Glasbau!“

„Rohoooot!“

„Nein, er wird begrünt. Ein Hingucker! Wertet diese Ecke richtig auf. Von hier kommt man ja in die Stadt rein.“

„Rooooot! Die Ampel!“

„Rrrichtig, die Ampel. Ich sehe keine.“

„Wir sind schon … ach, egal.“

„Und hier, Gasometer. Wenn die erstmal angefangen haben … vielleicht erleben wir noch die Fertigstellung! Das wird ein Hingucker. Wertet diese Ecke richtig auf. Von hier kommt man ja …“

„… in die Stadt rein, ich weiß. Wir sind auf dem Fahrradweg.“

Ich muss das nicht wissen, aber die Radfaher, sag es denen!“

Der jüngste vergleichbare Vorfall kostete aber jenen drei Igeln das Leben:

„Wenn ich 30 fahre, klappt das viel besser mit dem gleichzeitigen Sightseeing“, stelle ich fest. Dann ruckelt es, meine Frau quiekt auf.

„Du bist über ein Tier gefahren!“, ruft sie.

Ich blicke in den Innenspiegel nach hinten. „Das sind Blätter. Das war ein Blätterhaufen. Man hält Blätter oft für Tiere. Oder umgekehrt.“

„Was?! So ein Schwachsinn!“, ruft sie.

„Doch! Ich habe mal mit Sabrina USA als Beifahrerin geglaubt, ich hätte eine ganze Hasenfamilie überfahren. Es stellte sich heraus, dass es nur wehende Blätter auf der Straße waren. Heute noch ein riesen Gag zwischen uns. Seitdem bremse ich nicht mehr einfach so. Das muss schon was Handfestes sein, bevor ich bremse.“

„Halt doch bitte einmal an, wir sehen nach.“

„Okay, es waren Igel. Vermutlich eine Familie. Genau lässt sich das nicht mehr bestimmen. Aber da es zwölf Beinchen sind …“, mutmaße ich.

„Du brauchst eine Gleitsichtbrille.“

„Unsinn. Ich habe seit mehr als 20 Jahren dieselbe Brille!“

Und jetzt dieses Buch, das ich nicht lesen kann. „Ich gebe zu, einiges deutet darauf hin, dass meine Sehkraft sich zunehmend verändert. Qualitativ, nicht unbedingt quantitativ, würde ich sagen. Sie verlagert ihre Stärken lediglich. Heißt ja immer noch Sehkraft„, erkläre ich.

„Nein, das heißt in deinem Fall wirklich Sehschwäche. Da verlagert sich nichts, da ist etwas weg. Du wirst älter.“

„Ich habe eine Tochter, die gerade einmal elf Monate alt ist! Ich bin somit ein junger Vater!“

„Du bist genau das Gegenteil! Weißt du noch, als dich letzten Sonntag diese zwei Typen gesiezt haben? Du hattest dich furchtbar aufgeregt!“

„Sie haben mich aus Respekt vor dir gesiezt. Außerdem, wenn du neben mir herläufst, wirke ich automatisch älter.“

Meine Frau zieht mir den Heinz-Strunk-Sammelband durchs Gesicht und geht.

Kurze Zündschnur, denke ich und schlage wieder das Buch auf. Aber es stimmt ja. Ich fange an, zu lesende Dinge, ob Bücher oder Beipackzettel oder Beschriftungen, am ausgestreckten Arm zu lesen, wobei ich die Brille auf die Stirn schiebe. Für einen noch besseren Effelk reiße ich dabei die Augen maximal auf und ziehe mein Kinn nach unten, während ich die Lippen zusammenpresse.

„Ist das jetzt ein Schlaganfall?“, fragte meine Frau mich kürzlich besorgt, als ich versuchte, die Zutatenliste vom Günstig-Babybrei zu lesen. „Soll ich das Glas ans andere Straßenende stellen, damit du es lesen kannst?“

„Ich bin sicher, sie drucken die giftigen Zutaten extra klein drauf“, sagte ich nur.

„Also ich kann es lesen.“

„Ich habe seit mehr als 20 Jahren dieselbe Brille!“, rief ich.

Mein Eindruck ist, dass mich Optiker Kalthoff vor mehr als 20 Jahren ganz schön über den Tisch gezogen hat mit dieser Brille. Ich beschließe also, sie zu reklamieren und fahre zu Optik Kalthoff in der Münsteraner Salzstraße. Und wo ich schon unterwegs bin, begutachte ich den Bau der Gesundheitsakademie der Franziskusstiftung. Toll, denke ich, der Keller ist schon ausgehoben. Danach geht’s immer schnell.

Bei Optik Kalthoff.

„Hallooooo …“, sage ich und hoffe, dass man sich meiner Person annehmen wird.

„Guten Tag, suchen Sie eine Brille?“

„Nein, ich habe seit mehr als 20 Jahren dieselbe Brille! Sie baden gerade Ihre Hände darin!“

„Pardon?“, die Dame ist irritiert.

„Ein Scherz. Die Palmolive-Werbung. Kennen Sie nicht?“

Die Dame dreht sich um und nickt einem Herrn in Anzug zu. Der gesellt sich nun zu uns: „Würden Sie mich bitte nach draußen begleiten?“, fragt er höflich.

„Ja“, sage ich, „Aber das habe ich auch schon probiert, draußen ist der Empfang der Brille nicht besser.“

„Ach, es geht um Ihre Brille?“

Wir gehen wieder rein.

„Ja. Ich habe seit mehr als 20 Jahren dieselbe Brille. Ich habe sie bei Herrn Kalthoff gekauft. Wie sich nun herausgestellt hat, ist sie fehlerhaft. Ich habe mindestens drei Igel überfahren und in der Rückschau bin ich unsicher, ob es immer Blätterhaufen waren, wenn es rumpelte beim Autofahren. Dieses Modell scheint fehlsichtig zu sein.“

„Herr Kalthoff ist leider nicht mehr im Verkauf tätig.“

„Aha. Klar. Hat nur Mist verkauft.“

„Nein, er ist verstorben. Er wäre inzwischen weit über 100. Vielleicht kann ich Ihnen mit einer neuen Brille helfen. Lassen Sie mal sehen … Ja, Ihre ist für Kurzsichtigkeit … Ich nehme an, es wird Zeit für eine Gleitsichtbrille. Wir haben da ganz tolle Modelle, mit denen auch ältere Herrschaften hervorragend klarkommen.“

„Ältere Herrschaften?!“, rege ich mich auf.

„Beruhigen Sie sich doch. Wir bieten unseren reiferen Kunden eine spezielle Beratung an. Da nehmen wir uns ein bisschen mehr Zeit.“

„Reifere Kunden?!“

Ohne weitere Worte verlasse ich umgehend das Ladenlokal und will zum Auto zurück. Aber …

„Verdammt, wo parke ich?“

Ich irre Richtung Servatiiplatz, dann zur Stubengasse. Ich weiß einfach nicht mehr, wo ich geparkt habe.

Eine junge Frau kommt auf mich zu. „Sie sehen aus, als bräuchten Sie Hilfe. Möchten Sie auf die andere Straßenseite?“ Sie hakt sich unter und zerrt mich auf die andere Seite.

„Moooment“, protestiere ich, „Ich will doch nur nach Hause!“

„Ja“, wir gehen gleich nach Hause“, sagt sie und winkt die Polizeibeamten zu uns, die bereits auf uns aufmerksam geworden sind.

„Hier ist ein Entlaufener!“, ruft sie ihnen zu.

„Entlaufen?!“, frage ich, „Ich war nur bei Herrn Kalthoff!“

„Der ist doch schon lange tot“, sagt sie und lächelt mich dabei gütig an.

„Armer Irrer“, sagt der eine Polizeibeamte und der andere: „Schon wieder einer aus dem Tibusstift ausgebüxt! Kommen Se mal mit. Wir fahren jetzt mit dem Polizeiauto!“

Und so sitze ich hinten in einem Streifenwagen der Polizei, als mein Chef den Weg kreuzt.

„Herr Flotho? Sind Sie das?“

Ich kurbele die Scheibe runter und sage: „Das ist hier ein riesen Missverständnis. Es waren Igel. Ich sah sie nicht und überfuhr sie. Ich habe seit mehr als 20 Jahren dieselbe Brille!“

„Herr Flotho, Sie nehmen sich mal ein paar Tage frei und dann gucken wir mal, ob Sie Ihre Tätigkeiten künftig mehr ins Private verlagern können.“

Dieser Text ist Teil der Vollständigen Edition. Weitere Texte von Seppo auf www.seppo.blog.