„Das ist allerdings mindestens schockierend!“, war das einzige, das mir zu dem einfiel, das Merugin mir da brühwarm erzählt hatte: Er hatte wirklich die Antwort darauf gefunden, was nach dem Tod mit uns geschieht. Gruselig. Schlimmer als erwartet. Wie viel Cait bleibt mir noch? Selbst wenn ich des Lebens müde wäre: Angesichts dieser neuen Erkenntnisse wäre das allemal besser als das, was nach dem Schnitt kommt! Und jetzt erst recht drängt sich eine Frage auf: Da wir nun wissen, was nach dem Tod geschieht, ist es umso dringlicher zu erfahren, was sich eigentlich weit vor dem Tod so zuträgt – also wirklich weit: noch vor dem Leben, vor der Geburt, vor der Zeugung!
Der Verfasser dieser Leben verändernden Zeilen, nein, lebensverändernden Zeilen, hat, wie so viele Menschen, wiederkehrende Träume. Sie handeln stets von Fahrstühlen. Nicht Rollstühlen, die ja auch irgendwie fahren, sondern Aufzügen. Keinen Spielmannsaufzügen, nein, von Lifts vielmehr! Nicht Apfelschorlen, nein, nein, herrgott, wie schwer von Begriff kann ein Leser denn sein!? Wenn der Verfasser das gewusst hätte, hätte er diesen Text in der Leichten Sprache verfasst. Aber gut, er lässt sich gerne darauf ein und bittet nun eine KI, das bislang Geschriebene und vom Leser Gelesene, aber offenbar nicht Verstandene, in Leichte Sprache zu übersetzen.

„Das ist wirklich schlimm!“, das habe ich gesagt.
Merugin hat mir etwas erzählt. Es war sehr verrückt. Er hat gesagt: „Ich weiß jetzt, was nach dem Tod passiert.“
Das macht mir Angst. Es ist schlimmer, als ich gedacht habe.
Ich frage mich: Wie viel Zeit habe ich noch mit Cait? Auch wenn ich manchmal nicht mehr leben will:
Was nach dem Tod kommt, ist schlimmer. Dann bleibe ich lieber am Leben.
Jetzt habe ich eine neue Frage: Wenn wir wissen, was nach dem Tod passiert –
Was war vor dem Leben? Was war vor der Geburt?
Der Mensch, der diesen Text geschrieben hat, träumt oft dasselbe. Er träumt von Aufzügen.
Ein Aufzug fährt nach oben und nach unten.
Nicht von Rollstühlen. Nicht von Musikgruppen. Nur von Aufzügen.
Vielleicht hast du das nicht verstanden. Das ist okay.
Der Schreiber denkt: „Vielleicht hätte ich den Text gleich in Leichter Sprache schreiben sollen.“
Jetzt hilft ihm eine KI. Die KI schreibt den Text jetzt so, dass ihn alle gut verstehen können.
Zufrieden? Ist dem Leser nun deutlich, worum es geht? Falls nicht: Die KI bietet dem Verfasser noch eine Variante mit Bildern an:

Er befindet sich in seinen Träumen immer in irgendwelchen Häusern, Gebäuden und betritt dort die Aufzüge. Kaum steht er drin, bereut er es, da die Aufzüge in seinen Träumen grundsätzlich irgendwie nicht rundlaufen. Meistens ist die Bodenplatte nicht ordentlich fixiert und kippt ihrer Diagonalen nach, sodass die Insassen immer genau darauf achten müssen, wo sie stehen. Sofern Insassen stehen. In den zwei sich gegenüberliegenden Ecken, die nicht Teil der Diagonale sind, rutschen sie sofort durch den Boden hinunter in den Aufzugschacht. Nur auf der Diagonalen bzw. ihren Endpunkten können sie sicher stehen … So träumen nur Hochbegabte. Richtige Geometrie-Träume. Verknüpft allerdings mit Todesfallen-Elementen. Spannend!
Zurück zum Lyrischen Ich, das in diesem Fall vollumfänglich identisch mit dem Verfasser ist, was diesen Text brillant und authentisch zugleich macht. Denn der Inhalt ist atemberaubend und verlangt Ihnen, dem Leser, alles ab. Und mir als Schreibendem verlangt es weitgehende und unumstößliche Glaubwürdigkeit ab, die ich zu unserem Glück besitze.
Es war vorvergangene Woche, als ich wieder einmal einen meiner Aufzugträume hatte. Doch dieses Mal war er anders. Er war luzid, aber nicht so luzid, wie man es gemeinhin kennt. Irgendwie andersherum. Ich träumte und konnte meinen Wachzustand steuern. Und so war mir klar, dass ich nicht träumte, dass ich in einen Aufzug stieg, sondern dass ich das wirklich tat. Und mir war auch bewusst, dass es ein Fehler war, denn: die Bodenplatte …
Ich wäre ja doof, wenn ich da jetzt zustiege … Aber ich tue es. Denn hinter mir steht eine Gestalt mit, tja, wie soll ich es beschreiben, mit einem nicht zu lesenden Gesicht. Und vielleicht wissen Sie nicht nur, was luzide Träume sind, sondern auch, dass wir in Träumen in aller Regel nicht lesen können. Die Hirnareale, die für Sprache und Lesen zuständig sind, sind im Schlaf weniger aktiv, was es schwierig oder unmöglich macht, geschriebene Worte im Traum zu verstehen oder zu verarbeiten. Das trifft auch für dieses Gesicht zu, das wir uns wie einen blinden Flecken vorstellen können. Und ja, das ist ausgesprochen unheimlich, zumal mir klar ist, dass ich wach bin. Dass es real ist.
„Steigen Sie ein“, sagt die Gestalt mit einer Stimme, die ich im Prinzip nicht hören kann. Dennoch ist sie derart deutlich, dass ich keine Sekunde zögere und einsteige.
„Um die Bodenplatte müssen Sie sich keine Gedanken machen“, sagt die Gestalt nicht. Also sie sagt es schon, aber irgendwie sagt sie nichts, „Denn Sie leben ohnehin nicht.“
„Ach?“, entgegne ich, „Ich bin tot?“
„Nein. Noch nicht. Denn bevor Sie tot sind, müssen Sie leben. Und bevor Sie leben, müssen Sie geboren sein.“
Obacht! Natürlich leben wir schon einige Monate vor der Niederkunft. Aber für solche Diskussionen ist hier kein Platz. Wie sähe das denn jetzt aus, wenn ich mich mit einer gesichtslosen Gestalt auf eine solche Grundsatzdiskussion einließe? Das mündet unweigerlich in einer Abtreibungsdebatte und aufgrund meiner laufenden Bewerbung für ein hohes Richteramt …
„Ich bin also nicht geboren?“
„Korrekt. Wir fahren gerade in das Vorzimmer des Lebens.“
Der Fahrstuhl hält, eine synthetische Stimme sagt „Vorzimmer“. Gottseidank, denn die Anzeige des Aufzugs lesen kann ich ja nicht.
Wir steigen aus. Meine erste Aufzugfahrt in einem Traum, die vollkommen glimpflich verlief, denke ich. Doch die Gestalt widerspricht: „Sie träumen nicht. Sie sind ja nicht einmal geboren.“
Nach einigen Schritten erreichen wir einen Empfang. Ich weiß das, weil ich das Schild auf dem Tresen klar und deutlich lesen kann.
„Da staunen Sie, was?“, kommentiert die Gestalt, „Ab hier ist alles barrierefrei. Denn als Ungeborener, als Ungezeugter gar!, können Sie: nichts. Daher ist hier alles so dermaßen barrierefrei, dass Sie glauben, Sie lebten!“
Nicht schlecht. Ich bin beeindruckt. Das könnte sich nun wirklich niemand ausdenken. Diese Geschichte ist also wahr.
Eine weitere Gestalt, gesichtslos und stumm, aber gut vernehmbar, reicht mir einen, tja, was ist es?, eine Stange, einen Stab irgendwie.
„Das ist Ihre Zeitleiste“, erklärt die erste Gestalt, „Auf dieser Leiste sind alle Ihre kommenden Lebensstationen markiert. Vorgezeichnet.“
„Ach? Und warum hat der Herr da drüben“, ich deute auf einen Menschen mit Gesicht, der wie in einer Arztpraxis in einer zweiten Warte-Ebene sitzt, „Warum hat der Herr da drüben so eine besonders lange Zeitleiste?“
„Er hat keine besonders lange Zeitleiste. Eher eine durchschnittliche. Ihre ist nur besonders kurz.“
„Oh. Sie meinen …“
„Ja. Aber keine Sorge, das werden Sie vergessen haben, sobald Sie geboren sein werden. Wobei, ganz korrekt ist das nicht, Sie werden es wissen, die ersten Lebensmonate lang. Sie werden sich an mich erinnern. An alles. Nur: Sie können es niemandem erzählen. Darum schreien so viele Neugeborene. Weil sie Dinge wissen, die nicht immer schön sind.“
„Und warum geben Sie mir diese Zeitleiste dann?“
„Wegen des Händlers.“
„Welchen Händlers?“
„In einigen Jahren werden Sie in das Büro des Händlers gebeten. Der Herr mit der durchschnittlich langen Zeitleiste, ist vor Ihnen dran.“
„Wie lange wird das dauern?“
„Einige hundert Jahre.“
„Pardon, ich sitze da gleich einige hundert Jahre?!“
„Ich sagte ja, auch deswegen schreien Neugeborene.“
„Was geschieht beim Händler?“
„Sie werden zusammen handeln. Und Markierungen setzen auf Ihrer Zeitleiste. Sie werden Versprechen abgeben. Über künftige Taten – und Untaten. Sie erhalten positive Persönlichkeitsmerkmale – gegen oder statt Lebenszeit.“
„Ich könnte also sagen, verpassen Sie mir eine Hackfresse – und dafür werde ich 100?“
„Nicht ganz, aber in die Richtung geht es. Denn Sie werden nicht erfahren, um wie viel Lebenszeit es jeweils geht. Sie pokern um Jahre, um Monate, aber manchmal nur um Stunden. Bringt Ihnen eine Hackfresse, wie Sie sagen, Jahre? Oder nur wenige Sekunden? Wie wird Empathie belohnt? Mit Monaten? Oder nur Sekunden? Materieller Reichtum? Wird der bestraft durch Zeitabzug? Oder belohnt? Sie werden nicht einmal wissen, in welche Richtung es geht.“
„Dann ist es im Prinzip ja egal, was ich tue?“
„Ist es das?“
„Nee, das ist mir zu billig, wenn Sie mir geheimnisvoll so eine Gegenfrage stellen. Das funktioniert so nicht.“
„Es ist nicht egal. Denn: Manche verpokern sich, bevor sie die Geburtsfreigabe erhalten haben. Und werden nie geboren.“
„Die fahren dann mit dem Fahrstuhl wieder hoch?“
„Fahrstuhl? Nein, nein, jeder kommt auf anderem Wege hier hin. Sie wählten den Fahrstuhl.“
„Ich wählte gar nichts, ich wollte nicht einmal einsteigen!“
„Sie: wählten den Fahrstuhl.“
„Sie erinnern mich an den Typen aus Half-life. Mr. G.! Sie sind Mr. G.!“
„Wenn Sie das so wünschen …“
„Was geschieht im Hinterzimmer?“
„Das wollen Sie nicht wissen.“
„Verzeihung, aber ich weiß nun so vieles: Was nach dem Leben geschieht – hat mir Merugin erzählt -, und nun auch, was davor geschieht. Aber was bei Nicht-Geburt passiert, erfahre ich nicht? Bleibt denn immer noch eine Frage offen?!“
„Wenn Sie im Hinterzimmer sitzen, wissen Sie, was dort geschieht. Sie kennen dann die Antwort auf jede Frage. Der Preis aber ist: Un-Geburt. Doch vermutlich werden Sie geboren. Ich habe ein gutes Gefühl bei Ihnen. Denn ich weiß, auf welche Eigenschaften Sie verzichten werden. Ich möchte Ihnen aber einen Tipp geben. Ich werde Ihnen jetzt gleich etwas überreichen. Sie stecken es in Ihre Jackentasche. Sie werden bei der Frage nach einem bestimmten Persönlichkeitsmerkmal sofort wissen, was es mit diesem Gegenstand auf sich hat. Und Sie werden sich diese eine Eigenschaft wünschen. Ob Sie dadurch Lebenszeit erhalten oder sie Ihnen gekürzt wird – das verrate ich Ihnen nicht. Nur so viel: Sie ist es wert.“
Und tatsächlich schob mir die Gestalt etwas zu. Lang und spitz. Fast sticht er mir in die Hand. Und ich verstehe sofort.
Und schreie mir die Seele aus dem Leib im Münster-Hiltruper Herz-Jesu-Krankenhaus.

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