Verehrter Leser der Vollständigen Edition, für ein besseres Textverständnis empfehlen wir vorab die Lektüre des zweiten Textes dieser Texte-Sammlung: Aufriemen. Geht aber auch ohne.


„Hallo, kann ich Dir helfen?“

Normalerweise verlasse ich nach dieser Frage umgehend das jeweilige Geschäft, in dem sie mir gestellt wird. Denn als Kunde fühle ich mich, und damit tue ich dem Verkaufspersonal sicher Unrecht, eher belästigt als bedient und über das zwanghafte Duzen brauche ich ja wohl kein Wort zu verlieren. Zwei solcher ähnlichen Ereignisse haben sich bis heute in mein Gedächtnis gebrannt: Der Verkäufer bei „Jack & Jones“ , der mir in die Umkleidekabine folgte, um mir die Ärmel hochzukrempeln, und jener Handlanger nach dem Betreten der Münsteraner Filiale von „Emilio Adani“, als ich zufällig eine Lederjacke derselben Marke trug, der zu mir sagte: „Tolle Jacke, die habe ich auch im Schrank. Und jetzt hast du vermutlich Lust auf was Neues?“ Ohne ein Wort zu sagen, machte ich kehrt und verließ zum letzten Mal das Geschäft. Das kann bedeuten, dass ich es nie wieder betreten habe – oder dass ich auch diesen Text in der Umkleide von Emilio Adani schreibe, in der ich seit einigen Jahren lebe …

Es ist Mittwochmittag einer undatierten Woche, als mir wieder diese Frage gestellt wird.

„Hallo, kann ich Dir helfen?“

Und dieses Mal bin ich dankbar, denn ich bin bei Tragekurt. Tragekurt ist in gewisser Hinsicht – so ehrlich erlaubt er einem und damit auch mir zu sein – ein etwas unglücklicher Vorname, mindestens im Deutschen. Tragekurt ist in etwa so alt wie ich und wir kennen uns seit meiner Rückkehr nach Münster, da er uns damals bei unseren beiden Umzügen geholfen hatte. Tragekurt kommt aus Rutztekostan und in Rutztekostan ist Tragekurt ein Vorname wie hierzulande Michael, Thomas, Sebastian oder Merugin, also ganz normal und schlicht, geradezu langweilig. Aber Tragekurt hat das beste aus seinem Namen gemacht, als er nach Deutschland gekommen war: Er machte sich selbständig als Transportunternehmer, der mittels Tragegurts Dinge transportiert. So hatte Tragekurt mit nur einem Tragegurt unsere halbe Wohnungseinrichtung umgezogen – ein Teufelskerl!

Ich hingegen transportiere derzeit alles mit meiner Aktentasche, nachdem das Komitee aus Ich und Über-Ich (Sigmund Freud) beschlossen hatte, dass das Transportieren von Dingen mittels Rucksack eine altertümliche und längst überholte Angelegenheit ist, und mir daher hernach nahegelegt hat, mir stehenden Fußes eine Aktentasche zu kaufen. Ich zögerte nicht, las Hegl mit Zöpfen und erwarb bei einem sympathischen Unternehmen eine nachhaltige Aktentasche aus Leder, die direkt am nächsten Tag – weniger nachhaltig – geliefert wurde. Nachdem ich zusammen mit dem befreundeten Paketboten (Sie kennen ihn vielleicht schon aus dieser Geschichte.) die gröbsten Stationen der Ledertaschenlieferkette durchgegangen war und dann für angemessen befunden hatte, testete ich gleich am nächsten Arbeitstag meine neue Aktentasche.

Meist gebe ich mir selbst immer ein paar Wochen oder gar Monate Cait, bevor ich mir einen Fehlkauf eingestehe. In diesem Fall aber war nach wenigen Gehminuten nicht von der Hand zu weisen, dass ich in Sachen Aktentasche einen Aspekt sehr unterschätzt hatte: den des Gewichtes. Nach kürzester Zeit war mir klar, was für eine großartige Erfindung diese Rucksäcke sind, die es wie sonst nur Tragekurt und Tragegurt verstehen, eine Last optimal über den gesamten Körper zu verteilen – und zwar gleichmäßig, den Körperschwerpunkt dabei nicht aus der Ruhe bringend. Die Methode Aktentasche hingegen macht uns auf bitterste Weise deutlich, was dem Menschen geblüht hätte, hätte er nicht die Schwerkraft besiegt.

Der Heimweg am selben Tag gab mir dann den Rest, meine rechte Schulter schmerzte bis in den Arm und den späten Abend. Es war klar, dass etwas geschehen musste. Und da meine Frau nicht zugegen war, versuchte ich es mit KI. Als zahlender Microsoft365-Kunde habe ich unbeschränkten Zugang zur sprechenden Variante von Copilot. Und wer bislang geglaubt hatte, nur Verkäufer hätten das ideale Rüstzeug dazu, aufdringlich zu sein, der hat sich noch nicht über längere Cait mit einer KI unterhalten. Das Perfide an den neueren Sprachausgaben ist, dass sie versuchen, menschlich zu wirken. Die Stimme klingt weniger synthetisch und vor allem haben sie „Ähms“ und „Hmmms“ in den Sprachfluss eingebaut. Mitunter, wenn auch nicht immer, klingt das erschreckend echt. Ich finde das übrigens ganz grundsätzlich gut und erstaunlich und habe großen Spaß daran, die KI nebenbei laufen und reden zu lassen. Nach wenigen Minuten allerdings macht sie mich mit ihrer penetranten Freundlichkeit wahnsinnig und aggressiv. Immer gut gelaunt und zum Erbrechen konstruktiv und oftmals sehr unterwürfig – allesamt unerträgliche Eigenschaften. Wie kam ich drauf? Achso, wegen der Aktentaschentrageproblematik.

Nun, ich gestehe zwar, dass der Impulskauf vielleicht etwas zu impulsiv war, aber es war noch zu früh, den Rucksack wieder aus dem Schrank zu holen. Daher bat ich die KI um Rat, um nicht selber über Gebühr denken zu müssen.

„Pass auf“, sage ich zur ihr und wechsle ins historische Präsenz, „das einseitige Tragen meiner Aktentasche bekommt mir nicht. Was könnte ich tun?“

„Hey, Sebastian!“, begrüßt sie mich. Bislang nennen nur meine Eltern mich beim amtlichen Vornamen, nun auch die KI, da ich bei Microsoft als Sebastian und nicht Seppo angemeldet bin, „Um das einseitige Tragen deiner Aktentasche zu vermeiden und ein besseres Tragegefühl zu erzielen, könntest du folgende Optionen in Betracht ziehen: erstens Rucksack verwenden. Ein Rucksack verteilt das Gewicht gleichmäßig auf beiden Schultern und kann die Belastung reduzieren. „

Schlau. Das muss ich ihr lassen. Klar, dass sie mir den Rucksack unter die Nase reibt. Hätte ich ja gleich meine Frau fragen können.

„Hey Sebastian! Das ist unlogisch. Du hast ja weiter oben geschrieben, dass deine Frau gar nicht zugegen sei. Hmm, du hättest Sie also nicht gleich fragen können! Hab einen schönen Tag! Sag mir Bescheid, wenn ich wieder etwas für Dich, ähm, tun kann!“

Schnauze.

„Zweitens Entlastungspausen einlegen. Wenn du viel trägst, plane regelmäßige Pausen ein, um deine Schultern und deinen Rücken zu entlasten.“

Okay, mein Arbeitsweg dauert etwa dreizehn Gehminuten. Mit der neuen Aktentasche etwa 20, da sie mich einseitig nach unten zieht, wodurch ich teilweise im Kreis laufe und manchmal noch vor Erreichen des Büro wieder zuhause ankomme und neu starten muss. Wenn ich da noch zusätzlich Pausen einlege, brauche ich etwa … Augenblick … rechne, rechne … Copilot, wie lange?“

„Hey Sebastian! Dann brauchst Du etwa siebeneinhalb Stunden. Hab einen schönen Tag! Sag mir Bescheid, wenn ich wieder etwas für Dich, ähm, tun kann!“

Okay, das würde meinen Arbeitstag erheblich verlängern, um fünfzehn Stunden pro Tag. Das wird eng.

„Drittens Umhängetasche wählen: Eine Umhängetasche mit breitem Gurt kann ebenfalls helfen, da sie das Gewicht besser verteilt als eine schmale Tasche.“

Umhängetasche … hm. So kam ich dann auf Tragekurt, in dessen G’schäfterl ich nun stehe, da er neben seiner transportierenden Tätigkeit noch Tragegurte maßanfertigt und verkauft. Auf die Weise hat er sich neben dem Transportgeschäft zwar ein zweites Standbein aufgebaut, aber eben auch Konkurrenz geschaffen, da es in Münster nun mehrere hundert Tragegurt-Transport-Unternehmen gibt. Münster war mal bekannt als Fahrradstadt, inzwischen aber denken die meisten eher an die Tragegurt-Industrie, die Tragekurt hier etabliert hat – in guter, alter rutztekostanischer Handwerkskunst. Und deren Hilfe brauche ich nun. Würde es Tragekurt gelingen, einen Tragegurt zu konstruieren, mit dessen Hilfe ich meine Aktentasche schwerkraftkonform tragen kann? Frage ich ihn:

„Also Seppo. Kniffelig. Ein Tragegurt ist zunächst einmal immer eine Herausforderung. Darum ist es gut, dass du dich an einen Fachmann gewandt hast. Danke, dass du den stationären Handel unterstützt! So, woher hast du denn die Aktentasche?“

„Amazon.“

„Achso. Du weißt schon, dass nebenan Taschentorquato seinen Taschenladen hat?“

„Ja, das weiß ich. Aber als Torquato noch bei ‚Jack & Jones‘ gearbeitet hatte, ist er mir einmal bis in die Umkleide gefolgt und hat mir die Ärmel hochgekrempelt. Bei dem kauf ich nichts mehr! Und außerdem verstehe ich diese ideologieverseuchte Naivität nicht, die ernsthaft es für möglich hält, den Online-Handel stoppen zu können. Die Energie sollte man eher dazu nutzen, ihn zu gestalten. Und nun gestalten wir mir einen Tragegurt, Tragekurt.“

„Nun, ich sehe, bei deiner Tasche handelt es sich um eine Stilord 3000. Korrekt?“

„Korrekt.“

„Hm, ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich meine … warte, ich schreibe kurz Taschentorquato an, ob er mal eben rüberkommen kann.“

„Ach, das muss ja jetzt nicht unbedingt …“

Zu spät, wenige Sekunden später steht Taschentorquato im Laden und kann seinen Blick nicht von meinen Hemdsärmeln lassen.

„Torquato, folgendes. Seppo, ihr kennt euch ja, hat hier die Stilord …“

„Die Stilord 3000. Erkenne ich sofort. Verkaufe sie selbst“, sagt Taschentorquato, „Du hast sie aber nicht bei mir gekauft, oder?“

„Nein“, sage ich wahrheitsgemäß, „die habe ich online gekauft. Lieferkette überprüft. Alles sehr nachhaltig. Mein Paketbote krempelt mir wenigstens nicht die Ärmel hoch.“

„Das trägst du mir immer noch nach? Das ist schon zehn Jahre her!“

„Eine Vergewaltigung vergisst man nicht.“

„Der Typ ist doch lächerlich“, ruft er empört.

„Nun beruhigt Euch alle beide. Torquato, nur eine Frage. Die Stilord 3000 wird doch mit Tragegurt ausgeliefert, oder irre ich?“

„Wird sie.“

Oha, dämmert es mir. Habe ich den übersehen? Hielt ich ihn gar für Verpackungsmaterial? Oder ist er etwa …

„Seppo, ist der Gurt noch wie ab Werk in der Tasche?!“, fragt Tragekurt.

„Tatsache!“, krame ich bass erstaunt in der Tasche. „Tattasche gewissermaßen! Hier ist er!“

„Dann lege er ihn an“, rät Torquato, „Oder darf ich?“

„Finger weg!“

Ich lege den Tragegurt an, gurte die Tasche auf und denke, dass ich noch nie so etwas Belangloses geschrieben habe. Es ist nur so: Es gibt aus anderen Gründen schon ein Video dazu, das mich zeigt, wie ich direkt am nächsten Arbeitstag meine Aktentasche aufgurte und ins Büro schlendere.

Schockschwerenot! Sitzt dort etwa … Zacharias Flotho? Doch das ist eine andere Geschichte. Demnächst in Ihrer Vollständigen Edition!

Dieser Text ist Teil der Vollständigen Edition. Weitere Texte von Seppo auf www.seppo.blog.