„Was ist dein Lieblingsobst?, frage ich aussichtslos meine Tochter, die gerade erst zehn ist und nicht klar spricht, da es zehn Monate sind. So gesehen ist sie gerade einmal einskommazweifünfeinskommafünftel Jahre alt. Umso überraschender also, dass sie
„Wurst“, sagt.
Ich selber esse seit drei Jahren keinerfleisch Lei mehr, bin aber dennoch irgendwo stolz auf meine Tochter, auch wenn ich hoffe, dass sich dieses leicht schiefe semantische Verständnis auf Dauer geraderückt. Wir haben noch viel Arbeit vor uns.
Meine Weigerung, Fleisch zu essen, ist problematisch, wenn ich unserer Tochter das Essen anreiche. (Man füttert ja nicht mehr, man reicht an. Das Angereichte ist oftmals von Hipp oder etwas mit Selbstgekochtem Angereichertes. Skurril, dass man Anzureichendes mitunter noch anreichert, bevor man es anreicht.) Enthält das Anzureichende Fleisch, kann ich es nicht auf seine Temperatur testen. Ob also das Anzureichende zu heiß ist, muss meine Tochter selbst herausfinden. Wenn es zu heiß ist, sendet sie unmissverständliche Signale und der Tag ist gelaufen. Richtig dicke Pusteln hat sie jetzt auf der Zunge.
Doch das ist alles nur eine Nebensächlichkeit, wenn man bedenkt, wie Merugin am Sonntag unsere Wohnung betreten hat. Merugin ist ein äußerst treuer Weggefährte von mir, dessen Anwesenheit mich bereits zu meinen Düsseldorfer Caiten bereicherte. Er ist oft bei uns Zuhause und diesen Zustand ertrage ich nur schwer und nicht einmal mit Würde, da ich gerne meine Ruhe habe. Ich hatte gehofft, dass die Vergrößerung meiner Familie dazu führt, dass er uns seltener in unserer Wohnung überrascht. Noch kann ich diese Beobachtung aber nicht machen. Wie auch nicht am Sonntagmorgen.
Es ist Sonntagmorgen, sieben Uhr, als es klingelt.
Augenblick ich muss die Geschichte kurz unterbrechen, gerade kommt meine Frau rein. In meine Schreibstube. Schönes, altes Wort. Die Schreibstube befindet sich in meinem Elfenbeinturm in Münsters Südstadt, die eigentlich das Südviertel ist, aber – und das ist neu für die meisten – da meine Frau engen Kontakt zum Oberbürgermeister hat, setzt sich nach und nach der Begriff Südstadt durch. Sie will nun wissen, wer diese, ich zitiere, „geschmacklose, braune Lehrertasche“ hier vergessen habe. Eine Unverschämtheit. „Es ist meine neue Aktentasche!“, kläre ich sie auf. Sie lacht. „Wozu brauchst duuuu eine Aktentasche? Weil du so viele Akten mit dir herumschleppst?“ – Ich bin Akteur, denke ich, sage aber: „Ich hatte doch gesagt, dass die Zeiten meines Rucksackes vorbei sind. Ich bin in der Moderne des Tragens angekommen!“ Ihr Handy klingelt. „Da muss ich rangehen, ist Markus.“ Unser OB. Geht vermutlich um den Antrag auf Umbenennung des Südviertels.
Es ist also Sonntagmorgen, sieben Uhr, als es an unserer Wohnungstür klingelt. Früher klingelte es immer erst ab halb zehn, aber seit Merugin gemerkt hat, dass wir auch wochenends immer ab sechs wach sind, kommt er entsprechend früher vorbei.
„Das wird Merugin sein“, sage ich zu meiner Frau.
„Wir stellen uns tot. Bitte nicht Merugin so früh“, fleht sie.
„Aber dann hätten wir es hinter uns für heute.“
„Wir sollten woanders ganz neu anfangen.“
„Aber das haben wir doch schon. Er ist uns gefolgt!“
Pardon, ich unterbreche abermals Schreib- und Lesefluss. Meine Frau kam gerade wieder rein. Sie ist neben mir die einzige mit Schlüssel zum Elfenbeinturm. Es sei ein Missgeschick passiert betreffs meiner Lehrertasche. „Das ist keine Lehrertasche!“, empöre ich mich, „Es ist eine Aktentasche! Mit Geheimfach!“ – „Wo soll denn da ein Geheimfach sein?!“ – „Ja, also gefunden habe ich es so direkt noch nicht. Aber darum geht es ja auch. Wenn ein etwaiger Taschendieb es direkt fünde, wäre es ja witzlos. Vielleicht steht in der Anleitung, wo man sie findet.“ – „Zum Bedienen deiner Aktentasche braucht man eine Anleitung?!“ – „Ja, da steht zum Beispiel drin, dass es sich um eine Akten- und nicht Lehrertasche handelt. Aber um was für ein Missgeschick geht es denn nun?“ – „Nach dem Essen haben deine Tochter und ich erst Achterbahn und dann mit deiner Lehrertasche gespielt.“ – „Werden wir die Flecken rausbekommen?“
Es klingelt ein weiteres Mal. Kurz danach vibriert mein Handy. Eine Nachricht von Merugin: „Ich stehe vor Eurer Tür.“ Meine Frau reißt mir das Handy aus der Hand und wirft es aus dem Fenster. Das Handy prallt gegen das Moskitonetz, das wir wegen der Eichhörnchen spannen mussten, fliegt zurück in den Raum – und trifft unsere Tochter, die die Flugbahn des Handys bis zuletzt genau verfolgt hatte. Sie schreit auf.
„Warum duckt sie sich denn nicht?!“, frage ich.
„Sie ist zehn Monate! Sie kann doch nicht mit so einer Wendung rechnen! … Moment, warum hat sie denn Brandblasen an ihrer Zunge?!“
„Es gab gestern heißes Obst.“
Es klopft an unserer Tür. Merugin ruft nun: “ Seid ihr da? Ich höre Eure Tochter schreien!“
Ratlos blicken wir uns an. Dann eilt meine Frau zum Schrank und zieht einen gepackten Koffer aus dem untersten Fach. „Lass uns abhauen! Durchs Fenster!“
„Warum hast du einen fertig gepackten Koffer im Schrank?!“
„Falls die Fruchtblase platzt.“
„Die ist vor zehn Monaten unter großem Tammtamm geplatzt! Du erinnerst dich sicherlich gut daran! Und der Amnesie-Arzt sicherlich auch!“
„Anästhesie-Arzt! Anästhesie!“
Ich beschließe, die Wohnungstür zu öffnen. Als ich im Flur stehe, kommt mir die allerdings schon samt Merugin entgegen.
„Ja, scheiße, Merugin! Was zur Hölle!? Im Ernst, das ist doch jetzt nicht wirklich passiert?! Du trittst unsere einbruchsichere Tür ein?!“
„Ja, Seppo, ich hörte eure Tochter schreien, die wir nie beim Namen nennen. Und ihr öffnet nicht die Tür. Da dachte ich, sie sitzt alleine hilflos irgendwo rum, weil ihr tot seid oder so.“
„Wir sind nicht tot, wir haben uns nur tot gestellt.“
„Wo ist deine Frau, die wir nie beim Namen nennen?“
„Im Schlafzimmer. Ihre Fruchtblase ist geplatzt.“
„Was? Man sah ihr gar nichts an! Schon wieder?“
„Ich muss mich jetzt wirklich um eine neue Wohnungstür kümmern? Merugin, du bist mir zu anstrengend.“
Meine Frau kommt dazu: „Das ist ja auch wegen des Alarms ein Problem.“
„Ja, stimmt, ich muss den Alarm ausschalten“, sage ich und eile zum – Achtung! – Hauswirtschaftsraum.
Merugin erkundigt sich derweil, warum nur er den Alarm nicht höre. Es ist deswegen und für alle kein Alarm zu hören, da der Ruf direkt bei der Polizei eingeht. Und es kommt, wie es kommen musste: Die trifft nun ein.
„Hallo? Herr Flotho?“, ruft im Hausflur eine mir wohl bekannte Stimme.
„Auch das noch! Dieser Sonntag entwickelt sich vollkommen ungeahnt. In eine ganz falsche Richtung. Ganz falsche Richtung“, fluche ich und bitte Ordophob Ohßem herein.
„Herr Flotho, ist bei Ihnen … hallo, Frau Flotho … alles in Ordnung? Ihre Tür scheint aufgebrochen zu sein.“
„Ja, das war ich“, gibt Merugin sofort zu.
„Sie sind hier eingebrochen?“, fragt der Hauptkommissar, den meine Frau und ich ebenfalls noch aus Düsseldorf kennen.
„Er hatte gedacht, es sei Gefahr in Verzug, weil meine Frau und ich uns totgestellt haben bzw. meine Frau offensichtlich durch das Fenster verreisen wollte …“, sage ich.
„Ihre Fruchtblase ist geplatzt, Herr Ohßem“, erklärt Merugin.
„Was?! Na, dann kommen Sie doch direkt mit, ich fahre Sie ins Clemenshospital! Dafür ist die Polizei doch da!“, ruft Ordophob Ohßem.
„Dafür sind Sie eigentlich nicht da und meine Frau erwartet auch kein Kind“, kläre ich auf.
„Klopf, klopf!“, sagt jemand vor unserer nun imaginären Wohnungstür, „Hier ist ja was los!“
Das ist „der Bunte“. So nennen ihn hier alle im Viertel, vermutlich wegen seiner violett eingefärbten Locke im ansonsten grauen Haar. Alles, was wir über ihn wissen, ist, dass er aus Köln stammt, und selbst ernannter Nachbarschaftswächter ist. Er ist einer dieser Kümmerer, die an allem Interesse zeigen, was sie nichts angeht.
„Guten Morgen. Wie kann ich Ihnen helfen?“, frage ich betont genervt. Meine Frau und ich fahren seit Monaten die Schiene der aktiven Unfreundlichkeit, weil wir auf keinen Fall etwas mit diesem Mann zu tun haben wollen, was sich als sehr schwierig, praktisch unmöglich erweist.
„Ich habe gerade gesehen, dass in eurer Biomülltonne Essensreste liegen. Ihr wisst schon, dass die in den Restmüll gehören? Und außerdem finde ich es fahrlässig, dass ihr keine Wohnungstür habt. Da könnte ja jeder reinkommen!“
„Wir haben eine, sie liegt hier im Flur. Wir haben sie nur kurz ausgehängt“, kläre ich ihn auf.
„Seine Frau bekommt gerade ihr Kind“, mischt sich Ordophob Ohßem ein.
„Das tut sie eben nicht!“, brülle ich, „Sie verreist nur. Und wer will es ihr verübeln?!“
„Ich verreise doch nicht. Ich wollte doch nur aus dem Fenster …“, sagt sie geduldig.
„ICH WEISS, DASS DU NICHT VERREIST!“
Meine Tochter fängt ob meines Gebrülls fürchterlich an zu schreien.
„Du Unmensch!“, ruft meine Frau empört und meint vermutlich meine Tochter, nein, mich, greift zur gepackten Tasche und ruft beim Verlassen unserer offenen Wohnung, „Ich bin bei Desi.“
Desi ist die Patentante unserer Tochter. Außerdem versorgt sie uns mit allem, was man für ein Kind braucht. Sogar mit einer Notunterkunft für meine Frau.
„Na großartig!“, rufe ich, „Jetzt geht sie ins Frauenhaus, weil du, Merugin, unsere Tür eingetreten hast! Und Sie, namenloser Nachbarschaftswächter mit Silberlocke: Gekochte Essensreste gehören sehr wohl in den Biomüll.“
„Warum wirfst du Gekochtes übebrhaupt weg?!“, fragt er mich wie immer duzend und es ist mir immer wieder eine Freude, ihn nach Strich und Faden zu siezen.
„Weil wir im Überfluss leben. Es kam eines zum anderen. Sie wollte Obst, ich dachte, sie meinte Wurst, ich kochte die Wurst, Wurst zu heiß, Wurst ausgespuckt, selber esse ich keine Wurst, ES KAM EBEN EINES ZUM ANDEREN und außerdem ist es SONNNNNTAAAAAGMOOOOORGEN!“
„Er steht vollkommen neben sich“, sagt Merugin zu Ordophob Ohßem und dem Bunten gewandt, „Er ist einfach so unresilient.“
„Merugin, ich stehe vor allem neben meiner auf dem Flurboden liegenden Wohnungstür!“, brülle ich.
„Ja, das macht uns Sorgen!“, sagt der Bunte.
„Hallo, Herr Flothoooo?“, ruft eine Stimme aus dem Hausflur.
Die nächste, denke ich. Wer zur Hölle ist das nun?! „Ja, hier. Tür ist offen. Kommen Sie rein. Wer auch immer Sie sind. Kommen Sie alle nur ein!“
Es ist die alte Dame, die an Christi Himmelfahrt in unser Auto gefahren ist. Treue Leser haben sie bereits als die Mafia-Großmutter kennengelernt.
„Herr Flotho, ich bin untröstlich.“
Ich sacke zusammen. Ich ahne, was nun kommt.
„Herr Flotho, ich war sicher, ich passe in die Lücke. Aber beim Einparken … Es tut mir leid … Es ist schon wieder passiert. Ihr schönes, rotes Auto!“
„Ist es schlimm?“, frage ich nur.
„Ach, was heißt schon schlimm?! Ich persönlich würde da gar nichts machen lassen. Das sind zwei, drei Schrammen, eine Beule vielleicht und der Auspuff baumelt unter dem Unterboden. Fahren können Sie damit noch.“
„Frau … Dings … äh … Frau … also wir machen es wie beim letzten Mal, Ihre Versicherungsdaten habe ich ja noch. Es ist noch die Allianz?“
„Ja.“
Wundert mich. Die Dame bringt den gesamten Konzern ins Wanken. Vermutlich zahlt sie horrende Prämien.
„Ich zahle horrende Prämien. Ich glaube, sie beschäftigen eine ganze Abteilung mit mir“, schmunzelt sie und ich finde das irgendwie schon etwas unverschämt. Sie scheint genau zu wissen, dass sie mit ihren rund 90 Jahren kein Auto mehr fahren sollte. Mir würde es ja schon genügen, sie würde nicht mehr hinter unserem Auto fahren.
„Ich bin ja bei der LVM“, mischt sich nun Ordophob Ohßem ein, „Ich fahre allerdings mein Auto nur noch sehr selten, seit ich den Führerschein abgeben musste.“
„Moment, was?!“, frage ich, „Sie sind Polizist!“
„Ja, also je nachdem, aus welchem Winkel man das betrachtet. Also …“, setzt er an, doch ihn unterbricht ein Rufen aus dem Hausflur.
„Entschuldigung? Herr Flotho? Sind Sie zuhause?“
Es ist unser Paketbote. Nein, der kommt in aller Regel nicht auch sonntags, er wohnt aber in der Südstadt und da ich bestelle wie ein Irrer, kennen wir uns mehr oder weniger.
„Ja, immer herein, die Tür ist offen“, resigniere ich weiter, „Worum geht es?“
„Es geht um Ihre Rücksendung an Zalando. Sie erinnern sich, das Paket am Freitag, das Sie mir mitgegeben haben … Was ist hier passiert?“
„Seine Frau ist samt geplatzter Fruchtblase im Frauenhaus und er ist hier eingebrochen. Sie ist in sein Auto gefahren, er kommt von den Abfallwirtschaftsbetrieben und hat seine Mülltonne kontrolliert und ich bin wegen der Alarmierung hier“, bringt Ordophob Ohßem die Situation auf den Punkt.
„Ich bin ja eben nicht von den Abbfallwirtschaftsbetrieben!“, protestiert der Bunte.
„Ruhig, Sie sind jetzt nicht an der Reihe“, interveniere ich, „Was ist mit meiner Zalando-Rücksendung?“
„Sie werden lachen“, setzt der Paketbote an und ich unterbreche sofort und stelle klar:
„Ich bin sehr sicher, dass ich heute nicht mehr lachen werde.“
„Nicht? Nun, also als ich heute aufwachte, erbricht unser Hund ihr Poloshirt!“, erzählt der Paketmann.
„Wie kommt denn der Hund an das Poloshirt aus dem Paket, das an Zalando zurückgesandt werden sollte?!“, will ich wissen.
„Nun, Sie werden lachen!“
„ICH WERDE NIE WIEDER LACHEN!“
„Ich bringe die Pakete manchmal nicht auf direktem Wege zum Ziel, sondern nehme sie abends manchmal mit nach Hause. Weil es eben am Freitag schon recht spät war, nahm ich auch Ihre Rücksendung aus dem Wagen mit nach Hause.“
„Verzeihung“, mischt sich Ordophob Ohßem ein, „Sie haben offensichtlich eine Fahrerlaubnis?“
„Ja, richtig. Ich liefere Pakete aus. Meist.“
„Sehen Sie, es verhält sich so: Ich bin Hauptkommissar Ordophob Ohßem und habe Probleme mit der Polizei. Führerschein. Alkohol, naja, Sie wissen schon. Ihnen wäre geholfen, wenn ich darüber schweige, dass Sie Pakete mit nach Hause nehmen, und mir wäre geholfen, wenn Sie mich gelegentlich fahren könnten. Was meinen Sie?“
Mein Paketmann überlegt … und schlägt in den Deal ein.
„Schön, dass Sie beiden sich einig sind. So, das Polohemd ist mir egal. Behalten Sie es. Ich habe ganz andere Probleme, eines liegt hier im Flur, eines ist im Frauenhaus und ein weiteres parkt mehr in als hinter meinem Auto. Ich würde Sie und Euch nun inständig auch im Interesse meiner Leser bitten, diesen Ort des Geschehens zu verlassen. Ich werde ebenfalls gehen und woanders neu anfangen. So, wie meine Frau es mir vor einer halben Stunde noch geraten hatte. Wie sooft hätte ich auf die beste Ehefrau von allen hören sollen.
Beim Verlassen des Hauses, ich mit einer Tür unter dem Arm, blicke ich auf das gegenüberliegende Haus und sehe eine diabolisch lächelnde Oberst-Großmutter, die das ganze Schauspiel beobachtet hatte. Was zur Hölle steckt hinter dieser harmlosen Großmutter-Fassade? Ist sie wirklich nur die harmlose Nachbbarin, für die wir sie halten – oder laufen bei ihr alle Fäden zusammen? Ist am Ende sie die Patin des Südviertels?

Dieser Text ist Teil der Vollständigen Edition. Weitere Texte von Seppo auf www.seppo.blog.
